Der Sektenjüngling und die Weltpresse

Wie sich ein mutmaßlicher Massenmörder der Sekte Aum Shinrikyo als professioneller Demagoge entpuppt / Pressesprecher des Gurus streitet Herstellung von Chemikalien ab  ■ Aus Tokio Georg Blume

Wenn einer politischen oder religiösen Organisation bereits der geplante Massenmord an Millionen Menschen unterstellt wird, und sich ihr Sprecher in diesem Licht erstmals der Weltöffentlichkeit präsentiert, kann man dann noch von einer Charmeoffensive der Verdächtigten sprechen? Oder handelt es sich zwangsläufig nur noch um eine Verteidigungsrede wie in einem Gerichtsverfahren?

Wohl zu letzterem waren am Montag mehere hundert Journalisten, davon ein Großteil aus dem Ausland, zur ersten Weltpressekonferenz der Aum-Shinrikyo- Sekte in Tokio erschienen. Nicht einmal der Guru selbst wurde erwartet, sondern nur sein 33jähriger Pressesprecher Fumihiro Joyu, der sich für seinen Auftritt noch schnell einen modischen Kurzhaarschnitt statt der lockigen Sektenfrisur zugelegt hatte. Doch was machte das schon. Der große Saal des ehrwürdigen Korrespondentenclubs in Tokio war gestern so voll wie zuletzt beim historischen Besuch von Boris Jelzin in Japan. Nur die Spannung schien gestern noch größer zu sein.

Ganz zu Recht, wie sich herausstellte: Denn der gutaussehende Geistliche im türkisgrünen Sektenhemd enttäuschte niemanden, vielmehr entzückte er die Herzen mancher Zuhörerinnen. Tatsächlich war doch später auf den Gängen des Clubs von „Joyu-san“ die Rede, wobei vor allem weibliche Kolleginnen diese in Japan bereits ein wenig Vertrauen und Zuneigung signalisierende Anrede verwandten. Indessen sich auch die männlichen Kollegen bald einig waren: „Der Mann versteht seinen Job“, sagte ein US-amerikanischer Korrespondent. War aus der Verteidigungsrede also doch eine Charmeoffensive geworden?

Vermutlich werden diejenigen, die gestern fast respektvoll von Fumikiro Joyu sprachen, bereits heute wieder Terrormeldungen verbreiten, die für Außenstehende nur den Schluß erlauben werden, daß Leute wie der 33jährige Pressesprecher längst hinter Gittern sitzen müßten und die japanische Polizei offenbar ihren Einsatz verschläft. Nicht umsonst war in den letzten Tagen die Kritik an der angeblichen Unentschlossenheit der Sicherheitskräfte in den westlichen Medien stärker als in Japan selbst.

Doch schon sein professionelles Auftreten mußte beeindrucken; er ist schließlich ein mit allen Wassern internationaler Podiumsdiskussionen gewaschener Top-Abgänger der Tokioter Eliteuniversität Waseda. Dort hatte Joyu vor Jahren den englischen Studentenclub geleitet – nicht unmsonst, wie er jetzt bewies. Alle Fragen beantwortete Joyu direkt in einem unverschnörkelten Englisch. Nach der Universität, an der er ein Graduierten-Diplom in den Computerwissenschaften erhielt, wechselte Joyu in die japanische Weltraumbehörde – in Japan ein Traumposten für Leute mit seiner Ausbildung. Und Joyu erzählte der Weltpresse, warum er den Job wieder hinschmiß: „Ich interessierte mich für mehr als den alltäglichen Materialismus dieser Welt.“

Natürlich lieferte der Sprecher des untergetauchten, aber bislang eben nicht von den Behörden gesuchten Gurus Shoko Asahara auch die übliche Sektendemagogik. Pazifisten seien sie alle, friedensliebend und keiner Fliege etwas zu Leiden tuend. Alle giftigen Chemikalien, welche die Polizei bei der Sekte beschlagnahmt haben, seien lediglich für die Pestizid- Herstellung angeschafft worden – von Giftgas also keine Rede.

Die Pointe seiner Show aber lieferte Juyo erst, als er die innere Struktur der Sekte erklärte. Da sprach er vom „Management, das alle täglichen und praktischen Angelegenheiten des Sektenbetriebs leite“, und dem er sich selbst offenbar zugehörig fühlte. Und endlich erklärte er auch die Funktion des nun schon so oft abgebildeten Gurus: „Der Meister Asahara ist nur unser Symbol“, sagte Juyo und brauchte mit Worten gar nicht mehr daran erinnern, daß der Kaiser in der japanischen Verfassung als „Symbol des Volkes“ verankert ist. Ist Aum Shinrikyo also japanischer als Japan, dessen Regierung sich nach Ansicht vieler Gelehrter auch nur aus Kaiser und Management zusammensetzt?