Sanssouci
: Vorschlag

■ Sam Rivers, der „inoffizielle Bürgermeister“ des New Yorker Loft-Jazz, im Podewil

taz: Was bedeutet für Sie das FreeThing?

Sam Rivers:Vielseitigkeit. Ich habe mich immer gegen jegliche Einseitigkeit in der Kunst gewandt. Ich wollte nie zerstören. Mir ging es immer darum, meine musikalischen Erfahrungen zu einem eigenen Stil zu addieren. Louis Armstrong, Charlie Parker, T-Bone Walker, Miles Davis, Cecil Taylor, Dizzy Gillespie, Steve Coleman – das sind meine musikalischen Erfahrungen. Das habe ich alles gelebt und gespielt.

Sie waren in den siebziger Jahren mit Ihrem Rivbea-Studio der „inoffizielle Bürgermeister“ (Newsweek) der New Yorker Loft-Szene. Warum gaben Sie Rivbea auf?

Es gab damals nur wenige Musiker mit einer Vision von Comm-Unity. Bill Dixon, Cecil Taylor und einige andere – wir haben sehr intensiv an der Kontrolle der Musik durch die Musiker gearbeitet. Aber insgesamt fehlte das Bewußtsein und die Bereitschaft, sich zusammenzuschließen. Letztlich dachten die meisten doch nur an ihre eigene Karriere. Miles Davis meinte, daß ich verrückt sei, mich für die Selbstorganisation der Musiker zu engagieren: „Sie werden das nicht zu würdigen wissen und auf dich scheißen, sobald sie es zu was gebracht haben.“ Aber ganz so negativ, wie Miles es prophezeite, kam es nicht. Die Musikergagen wurden vom Arts Council subventioniert. Das war zwar nicht die Welt, aber es half. Wir waren jedenfalls nicht in der totalen Underdog-Situation. Unsere Musik war frei. Und fast für umsonst. Jeder zahlte soviel Eintritt wie er wollte oder konnte. Heute würden die Republikaner am liebsten die gesamte Off- Kultur kippen. Aber da muß man durch, da heißt es, Verbündete zu finden. Einschränkend möchte ich jedoch sagen, daß der Berliner Senat seinen Künstlern mehr Geld zu geben scheint als die gesamten Vereinigten Staaten zusammengenommen. Die Berliner Kultursubventionierung ist aus amerikanischer Sicht tatsächlich unglaublich.

Der Bassist Jay Oliver, der vor anderthalb Jahren in Berlin starb, erzählte mir mal von den Proben ihrer Band zu der Zeit, als er in New York lebte. Er hatte damals einen Job in einer Kantine, und als er abends zur Probe kam, roch er nach Fisch und Fett. War es damals üblich, daß die FreeThing-Musiker solche Jobs hatten?

Ja, aber man sprach nicht drüber. Ich wußte nicht, daß Jay so einen Job hatte. Mag sein, daß man es manchmal roch. Aber keiner fragte groß nach, weil es eher etwas Peinliches hatte, wenn man zugeben mußte, von der Musik nicht leben zu können. Darüber schweigt man dann lieber.

Wie wichtig waren die politischen Ereignisse der Sechziger für die FreeThing-Bewegung?

Die Kunst reflektiert das Gefühl der Zeit. Das FreeThing war eine sehr politisierte Angelegenheit. Sehr trotzig, sehr widerständig. Avantgarde, das war damals dieses Außer-Kontrolle-Feeling. Als ich Anfang der Siebziger in Cecil Taylors Band spielte, waren wir oftmals mit einer Situation konfrontiert, wo die Leute vor Verärgerung über unsere Musik zu schreien begannen. Sie buhten uns nicht aus, sondern schrien uns von der Bühne. Das waren kleine kulturelle Riots. In der Regel verließen aber diese Leute dann den Laden, und wir spielten weiter.

Sam Rivers Foto: Marcus Ewers

Die Avantgarde – doch mehr als nur eine grandiose Zeitverschwendung?

Alles eine Frage der Kontrolle. I won't deal with you – das ist die Geschichte der Beziehung zwischen Avantgarde und Jazz- Establishment. Die Traditionalisten gehen mit dem Programm. Kids in schicken Anzügen: young oldtimers. Seid Mitte der siebziger Jahre fragen wir uns nun schon, wo die jungen Musiker bleiben, die den Mut aufbringen für das nächste Kapitel. Aber die Kids spielen Bebop. Nein, einen haben wir: James Carter. Er ist der einzige junge Musiker, der den Free Spirit hat.

Sie leben heute in Orlando, Florida.

Ich bin in Chicago aufgewachsen und habe schon als Kind diese Massen von Schnee gehaßt. Ich wollte schon immer da leben, wo es warm ist. Und wenn man die 65 überschritten hat, bekommt man einen monatlichen Sozialversicherungsscheck. Das ist nicht viel, aber es ist angenehm. Ich bin jetzt 71, ich muß also nicht mehr arbeiten. Aber wenn ich arbeite, wie jetzt in Berlin, dann weil es mir Spaß macht. Und ich verdiene noch was extra. Was will man mehr? Interview: Christian Broecking

Sam Rivers tritt heute, 20 Uhr, mit dem Berliner Young Improvisers Pool im Podewil auf (Leitung: Alexander von Schlippenbach), Klosterstraße 68-70, Mitte