Ende des Frühlings von Palermo

Hinter der idyllischen Fassade der sizilianischen Hauptstadt bestimmt die Mafia wieder alle Bereiche des täglichen Lebens  ■ Aus Palermo Antje Bauer

Im Englischen Garten schieben junge Mütter Kinderwagen spazieren, unter knospenden Bäumen sitzen ältere Herren voller Hoffnungen auf Kontakte. In der Via Roma, der Hauptgeschäftsstraße, hocken Arbeiter breitbeinig auf steinernen Vorsprüngen und schauen den Mädchen nach. Die Sonne strahlt weißlich, sie sengt noch nicht – ein milder Frühling in Palermo. Nichts läßt auf Anhieb vermuten, daß an diesem idyllischen Ort erst vor wenigen Wochen Jugendliche von der Mafia auf der Straße abgeknallt worden sind. Nichts weist zunächst daraufhin, daß hier die Gewalt der bestimmende Faktor des Zusammenlebens ist.

„Es ist Unsinn, was die Leute reden, daß das hier eine hochkriminelle Stadt ist“, sagt auch Giovanna Terranova. „Ich habe einen Zirkel, da gehe ich regelmäßig abends hin, das ist völlig unproblematisch.“ Giovanna Terranova ist eine Dame. Ein farbiger Hausdiener öffnet die Tür, im Wohnzimmer steht ein Flügel, das Ambiente ist gediegen. Wahrscheinlich hätte Frau Terranova ihr Leben als angesehenes Mitglied der palermitanischen High-Society beendet, wenn nicht die Gewalt in ihr Leben eingebrochen wäre. 1979 wurde ihr Mann, der Untersuchungsrichter Cesare Terranova, am Eingang des Hauses von Killern der Mafia niedergestreckt. Er war der erste der „cadaveri eccellenti“, der hochrangigen Staatsvertreter, die von der Mafia ermordet wurden, weil sie ihr in die Quere kamen.

Mit dem Mord an ihrem Mann änderte sich Giovanna Terranovas Leben von Grund auf. „Zunächst habe ich mich von allem zurückgezogen“, erinnert sie sich. „Aber dann habe ich mich mit anderen Frauen zusammengetan, deren Männer von der Mafia umgebracht worden waren, und wir haben die ,Vereinigung der sizilianischen Frauen gegen die Mafia‘ gegründet.“ Die Mitglieder der Organisation, deren Vorsitzende Frau Terranova ist, besuchen Mafia-Prozesse, für die sich sonst nur wenige interessieren, gehen in die Schulen, um über die Mafia aufzuklären, machen Protestveranstaltungen gegen die mafiöse Durchdringung des Lebens in der Stadt. „Das Hauptproblem hier ist die traditionelle Gleichgültigkeit der Leute“, klagt sie. „Man hatte sich hier an die Morde der Mafia gewöhnt. Da lag dann eben jemand tot auf der Straße – das ist deren Sache, hieß es dazu, da mischen wir uns besser nicht ein.“ Die Morde an Richtern, Journalisten und Staatsanwälten, die mit ihrem Mann ihren Anfang nahmen, rüttelten die Öffentlichkeit auf. Als Leoluca Orlando, der den Kampf gegen die Mafia auf seine Fahnen geschrieben hatte, im Jahre 1985 zum Bürgermeister der Stadt gewählt wurde, änderte sich das politische Klima in Palermo. „Wir haben sehr viele Hoffnungen in Orlando gesetzt“, erinnert sich Terranova, „er war geradezu ein Symbol für den Antimafiakampf. Es war der ,Frühling von Palermo', ein regelrechtes Gefühl des Aufschwungs. Doch seit er wiedergewählt worden ist, hat er den alten Schwung nicht mehr. Nicht, daß alles so wäre wie früher. Die Aussagen der „pentiti“ und das Durchgreifen der Justiz haben die Mafia geschwächt. Aber sie ist noch immer da und so schnell nicht kleinzukriegen.“ Noch immer wartet Giovanna Terranova darauf, daß irgendwann der Mord an ihrem Mann aufgeklärt wird.

„Palermo ist nicht nur die Hauptstadt der Mafia, sondern auch der Antimafia, des Kampfes dagegen“, sagt Leoluca Orlando. Aus der Zeit seines Jurastudiums in Heidelberg ist ihm ein recht passables Deutsch geblieben. Er klemmt an der Ecke eines langen Tischs, eine schwarze Haarsträhne – sein Erkennungszeichen – hängt ihm ins Gesicht. Die letzten Wahlen gewann er 1993 als Galionsfigur der Rete, der Antimafiabewegung, die er gegründet hat.

Der Eingang zum pompösen Rathaus wird von Polizisten mit schußsicheren Westen bewacht, oben werden die Besucher von würdigen Saaldienern in Livree in Empfang genommen. In einem großzügigen Saal, dessen Deckenfresken und Samtvorhänge an die nicht so fernen Zeiten erinnern, in denen hier die Vertreter der Großgrundbesitzer und Mafiosi residierten, stehen Herren in Kleingruppen und unterhalten sich gedämpft, während sie die Neuankömmlinge mustern – ein Anblick wie bei Hof. Das Antichambrieren kann länger dauern. Gelegentlich schnarrt eine Glocke im Nebenraum, dann eilt ein Höfling in Cordhosen beflissen in das Zimmer des Bürgermeisters.

Wenngleich Orlando äußerlich nicht in dieses Ritual zu passen scheint, hat er sich die Formalitäten doch zu eigen gemacht und genießt sie nicht ohne Eitelkeit. Daß in den letzten Monaten mehrere Ratsherren der Rete das Weite gesucht haben, findet er nicht weiter tragisch: Schließlich sei ja in der Hauptsache er gewählt worden, alle anderen seien zur Durchführung des Programms da. „Unser Anliegen ist, aus Palermo eine normale Stadt zu machen. Eine Stadt, in der der Verkehr fließt, die Dienstleistungen funktionieren und die Bewohner Vertrauen in den Rechtsstaat haben können“, sagt er. Dafür habe er weiterhin die Unterstützung der Bevölkerung.

Zwischen den Brunnenfiguren vor dem Rathaus machen Touristen Fotos voneinander. Hinter dem Palast, in der Kirche San Giovanni degli Eremiti, steht ein Brautpaar vor dem Altar. Im Vorgärtchen der Kirche, mit Blick auf die roten maurischen Kuppeln, hat sich ein Romamädchen postiert und wartet auf die Hochzeitsgäste. Idylle. Und dennoch ist das Zentrum von Palermo eines der Hauptsorgenkinder der Stadtregierung. „In den sechziger Jahren hat die Mafia vor allem im Baubereich große Profite gemacht“, führt Emilio Arcuri aus. „Überall ist die Stadt ausgeufert, sind neue Viertel entstanden. Die Altstadt ist währenddessen verfallen. Heute stehen in der Stadtmitte die Regierungsbauten und die Banken, inmitten von Elendsvierteln mit hoher Kriminalität.“ Arcuri ist Vizebürgermeister der Stadt und Ratsherr für den Wiederaufbau der Altstadt. Eine dornige Aufgabe. „Es geht nicht nur um verfallende Gebäude. Da sind dann die Kanalisationsleitungen leck, die Wasserleitungen undicht, die Straße kaputt“ – eine Sisyphusarbeit.

Auf zwei bis drei halbwegs moderne Geschäftsstraßen erstreckt sich der präsentable Teil von Palermo. Doch in jeder Seitenstraße ändert sich das Bild abrupt. Zwischen alten, verfallenden Häusern, aus denen es feucht riecht, baumeln Bettlaken über der Straße. Überall fault Müll vor sich hin, nur von stöbernden Katzen aufgeworfen. Die Renovierung der Gebäude tut not, jedoch ist es damit nicht getan. Denn in den dunklen Wohnungen lebt jener Teil der Bevölkerung, der es am schwersten hat. An jeder Straßenecke steht hier jemand vor einem Holzkarren, auf dem er Musikkassetten oder billige Gürtel zum Verkauf liegen. Überall entstehen kleine ambulante Gemüsemärkte. 15 illegale Märkte gebe es im Zentrum inzwischen, das seien drei mehr als die legalen, klagte kürzlich eine Zeitung. Jede Parklücke wird von einem illegalen Parkwächter bewacht, und durch die moderne Via Roma zockelt gelegentlich ein Alteisensammler mit einem Eselsgefährt. Die Arbeitslosigkeit ist hier hoch, und die Kinder sind zahlreich. Ab frühester Pubertät lungern die Jugendlichen an Straßenlaternen gelehnt, auf Mofas sitzend, beobachten die Passanten, lassen den Tag verstreichen. „Auf der Straße ist man hier sehr schnell“, bemerkt Gloria Cipolla. „Mit zwölf bis vierzehn Jahren verlassen die meisten Kinder die Schule. Die Mädchen, weil sie zu Hause ihrer Mutter helfen sollen. Die Jungen finden im besten Fall einen illegalen Job in einer Autowerkstatt oder als Botenjunge. Meist jedoch treiben sie sich auf der Straße herum. Lernen, Handtaschen zu klauen, übernehmen Dienste für Drogenhändler. Andere Perspektiven haben sie keine. Die Geschicktesten bekommen dann bald vom kriminellen Milieu schwierigere Aufgaben übertragen. So wachsen sie in die Mafia hinein.“ Gloria Cipolla arbeitet in der CISS, einer regierungsunabhängigen Organisation, die Sozialarbeit in Drittweltländern vernetzt – auch Palermo gehört dazu. In den vergangenen Jahren hat das CISS einen Erfahrungsaustausch von Sozialarbeitern organisiert, die in Brasilien und Palermo mit Straßenkindern arbeiten. „Natürlich ist die Situation von Straßenkindern in Brasilien und Palermo nicht genau die gleiche. Doch die Gründe, aus denen Kinder von zu Hause abhauen, sind dieselben. Und ihr Lebensweg letztlich dann auch.“ Kampf gegen Armut heißt für Gloria Cipolla deshalb auch Kampf gegen die mafiösen Strukturen, in denen jeder in Ausweglosigkeit erzogen wird. „Die Jugendlichen wachsen da hinein, es ist die einzige Chance, die sie haben. Die Mafia besorgt ihnen Arbeitsplätze und hilft ihnen weiter.“

Hilfe gewährt die Mafia auch Geschäftsleuten, die in Not geraten. „Die Mafia erfährt von den Banken, wenn ein Unternehmen oder ein Laden finanzielle Schwierigkeiten hat. Kredite, die die Bank verweigert, bietet dann die Mafia an, zu Wucherzinsen von zehn bis zwanzig Prozent im Monat. Wenn der Schuldner dann nicht zahlen kann, übernimmt die Mafia nach und nach die Kontrolle des Ladens. In letzter Zeit hat das zugenommen“, klagt Costantino Garraffa, Vorsitzender der Confesergenti. Die Confesergenti ist sehr diskret in einem Appartementhaus untergebracht. Sie ist eine Vereinigung der Kleinunternehmer. Im engen Empfangsraum hängt ein Plakat mit einem Totenkopf: SOS Erpressung und Wucher, steht darauf, mit einer Notrufnummer.

Zugenommen hat auch die Zahl der Geschäftsinhaber, die Erpressungsgelder und Wucherzinsen nicht mehr stillschweigend bezahlen, sondern die Confesergenti aufsuchen und sich beraten lassen. Doch die Angst ist noch immer groß. „Ein Telefonanruf kann das ganze Leben verändern“, erklärt Garraffa. „Eine einzige Drohung reicht.“ Auf die Frage, ob er selbst bedroht wird, reagiert Garraffa ausweichend. Ob er eine Waffe trägt, will er nicht sagen. Ein Notruftelefon gegen Wucher in Palermo zu organisieren, heißt, sich in Lebensgefahr zu begeben.

Nachts. Aus den Stadtbussen quellen Gruppen von Jugendlichen, vor den Kinos stehen Schlangen, das Musikprogramm in den Livekneipen beginnt um elf. „Die Kultur verläuft hier parallel zu den politischen Entwicklungen“, erklärt Davide Camarrone, freier Mitarbeiter der Zeitung I Siciliani, deren Gründer von der Mafia erschossen worden ist. „Wenn die Mafia stark ist, gibt es hier vor allem Konsum. Wenn sie zurückgedrängt wird, entstehen wieder mehr Initiativen von Leuten. Während des ,Frühlings von Palermo‘ hat es hier eine kulturelle Blüte gegeben. Doch im Moment ist alles wieder etwas eingeschlafen. Jetzt arrangiert man sich wieder mit allem – wie immer in Sizilien.“

Aus einer Nebenstraße biegt ein Moped in die Kreuzung ein. Vom Hintersitz schießen zwei Hände vor und krallen sich in meine Tasche. Nach einigem heftigem Reißen hastet ein langbeiniger Jugendlicher mit der Beute in der Hand in Richtung Mofa, das sich alsbald in einer Gasse verliert. Auf dem Bürgersteig bewachen schnurrbärtige Männer stoisch Kistchen voller hellgrüner Fenchelknollen. Passanten bekreuzigen sich vor Madonnenbildern, die, von Dutzenden Birnchen matt erleuchtet, im Halbschatten von Hauseingängen schimmern. Niemand hat etwas bemerkt.