■ Zur Pädagogisierung von gesellschaftlichen Krisen
: Vom Wissen, Wollen und Sollen

Ist Bildung einfach „Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung“? Und wachsen, versteht man Bildung im genannten Sinne, dann tatsächlich die Möglichkeiten, die Welt angesichts all der gesellschaftlichen Krisenerfahrungen zu verändern? Diese Empfehlung verdient eine genauere Betrachtung, hat doch gerade in Deutschland jenes Denken eine gewisse Tradition, das den Begriff der Politik durch den der „Kultur“ – und deren als „Bildung“ bezeichnete subjektive Seite – substituiert.

Wir kennen diese Argumentationsfigur seit den Anfängen dieses Jahrhunderts, in der die Kulturkritik und die Lebensreformbewegungen – mit Unterstützung der pädagogischen Reformbewegung – der Parole „Gesellschaftsreform durch Selbstreform“ zu einer enormen Popularität verholfen haben. Nach dieser Auffassung garantieren nicht politische Steuerungs- und Regulationsmechanismen wie Regierungen, Parteien, Parlamente und eine politisierte Öffentlichkeit die Veränderung der Gesellschaft, sondern in erster Linie eine „Lebensreform“ im Sinne einer „inneren Wende“ (Ludwig Klages). Dieses Programm entwickelte sich in der Spur der neuhumanistischen Bildungsphilosophie, die den Staat als „Kulturstaat“ beschrieb und damit die Politik in einen untergeordneten Rang verwies.

Krisendiagnosen, die auf eine Kritik der invididuellen Lebensführung abheben und damit Defizite in erster Linie in einem Mangel an Wissen (kognitive Defizite), an Wollen (motivationale Defizite) und an Sollen (moralische Defizite) festmachen, legen eine pädagogische Bearbeitung solcher Krisen nahe. Ellen Key, eine der Pionierinnen der Reformpädagogik, war dann auch der festen Überzeugung, daß sich die alte Gesellschaft nur in einem neuen Verständnis der Erziehung erneuern könne.

Eine Pädagogik, die Erziehung und Gesellschaftsveränderung zusammenschweißt, kommt ohne Moral nicht aus. Im zwanzigsten Jahrhundert kondensiert diese Moral im pädagogischen Prinzip Verantwortung, das sogar die Ausdifferenzierung der pädagogischen Wissenschaften entscheidend stützt. Verantwortung wird dabei in zwei Dimensionen entwickelt: als Verantwortung der pädagogischen Profession für ihre Zöglinge und als Verantwortung für die Verbesserung der Welt.

Die Pädagogik, die zur Erneuerung der Gesellschaft durch Erziehung aufruft, ist aber bis heute zu einem guten Teil Reformrhetorik geblieben, weil sie die Macht ihrer Beschwörungen gar nicht in der Hand hat. Pädagogen operieren unter den Bedingungen hoher Unsicherheit und mit großem Enttäuschungsrisiko. Wir sehen dies in den letzten Jahren klarer als je zuvor, ohne es wahrhaben zu wollen. Die Schule „versagt“ immer häufiger angesichts gesellschaftlicher Krisenerfahrungen, auf die sie gleichwohl immer wieder angesetzt wird.

Gerade was das Thema Ökologie betrifft, läßt sich dies in den letzten Jahren empirisch belegen. Die Forschungsgruppe Umweltbildung an der Freien Universität Berlin weist beispielsweise darauf hin, daß Umweltbewußtsein nicht in ein verändertes Umweltverhalten mündet und daß insbesondere moralische Aufforderungen zu Verhaltensänderungen keine nachweisbare Wirkung erzielen. Stehen wir vor der paradoxen Situation, daß die großen Umwelterziehungskampagnen der letzten zwanzig Jahre – die immerhin durch die Verankerung eines „fächerübergreifenden Prinzips Umwelterziehung“ in den schulischen Curricula von der Konferenz der Kultusminister der Länder abgesegnet wurden – unterm Strich keinen Effekt hatten?

Einen Effekt hatten sie schon, nämlich den, daß Kinder und Jugendliche heute über Umweltverschmutzung und globale Risiken so gut informiert sind wie nie zuvor.

Eine „Bildung von Erdbewußtsein“ – wie etwa von Stefanie Christmann in ihrem Debattenbeitrag in der taz vom 7. 3. 95 angemahnt – hat also bereits stattgefunden, es liegt nicht am Wissen! Woran sonst? An der Motivation? Oder an der Moral? Weder an dem einen noch an dem anderen. Wahrscheinlich liegt es daran, daß Jugendliche eine vage Ahnung haben von der Eigenlogik bestimmter gesellschaftlicher Teilbereiche, die sich immer stärker autonomisieren und gegen Rückmeldungen aus ihrer Umwelt immer unempfindlicher werden.

Das Gesellschaftsverständnis der „Pädagogik der Verantwortung“, die diese Jugendlichen immer wieder in die Pflicht nehmen will, ist sehr viel naiver. Diese Pädagogik beruht gewissermaßen auf einem willkürlichen Verständnis von Gesellschaft. Sie beschreibt Gesellschaft primär unter moralischen Gesichtspunkten. Nun sind zwar Personen für moralische Kommunikation relativ empfänglich, für gesellschaftliche Teilsysteme wie beispielsweise die Politik gilt dies jedoch nur mittelbar. Für Politik zählt Moral nur – ob es uns nun gefällt oder nicht –, wenn sie sich gleichsam übersetzen läßt in eine Sprache, die die Politik versteht: nämlich ob ein Thema Stimmen bringt oder kostet.

Die Moralisierung der Kommunikation kann also durchaus Sinn machen, wie der Fall der Ökologiebewegung belegt, die einen Außendruck auf das politische System deshalb erzeugte, weil sie Wahlchancen beziehungsweise -verluste simulierte, was schließlich sogar zur Gründung der Grünen und zur Einarbeitung des Umweltthemas in die Programme der anderen Parteien beitrug.

Für die Schule ist eine solche Übersetzung moralischer Kommunikation außerordentlich unwahrscheinlich. Zum einen, weil ihre Klientel über Wählerstimmen in der Regel gar nicht verfügt, und zum anderen, weil sie sich zunächst einmal um ganze andere Dinge kümmern muß, nämlich um die Ausbildung, und diese ist – was auch den Schülerinnen und Schülern in hohem Maße bewußt ist – gekoppelt an bestimmte Lebenschancen.

Kein vernünftiger Mensch sollte heute noch bezweifeln, daß Umweltthemen wie die Verschmutzung der Natur, die Risiken bestimmter Technologien oder die Verschwendung und Ungleichverteilung von Ressourcen in die Lehrpläne der Schule gehören. Dies alles sind in der Tat Themen, die die Gesellschaft an empfindlichen Stellen treffen. Dabei geht es allerdings in erster Linie um Wissen ohne unmittelbaren Anspruch auf Weltveränderung. Es geht um Versuche der Rekonstruktion außerordentlich komplexer Zusammenhänge und nicht um Moral oder gar um die „Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung“.

Eine Pädagogik, die ihre Schützlinge zur Bearbeitung gesellschaftlicher Krisen in erster Linie auf die „Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung“ verpflichtet, läßt diese dauernd gegen Systemgrenzen laufen, um ihnen dann, wenn sie resigniert aufgeben, mangelndes politisches Interesse und übersteigerten Hedonismus vorzuwerfen. Felicitas Thiel

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften der FU Berlin und beschäftigt sich im Rahmen einer Forschungsarbeit mit der Pädagogisierung gesellschaftlicher Krisen.