Streikparagraph auf dem Prüfstand

In Karlsruhe wurde über die Verfassungsbeschwerde der IG Metall gegen den Streikparagraphen 116 verhandelt / Verfassungsrichter sah sich von Arbeitgebern zu Tränen gerührt  ■ Aus Karlsruhe Christian Rath

Herr Zwickel, warum war die IG Metall in der bayerischen Metallrunde denn eigentlich so erfolgreich?“ fragte unschuldig lächelnd Johann Friedrich Henschel, Vorsitzender Richter des 1. Senats im Bundesverfassungsgericht. Auf diese Frage hatte Zwickel gewartet, denn mit der Behauptung, die Streikfähigkeit der Gewerkschaften sei bedroht, hatte die IG Metall Verfassungsbeschwerde gegen den 1986 novellierten Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) erhoben. Die SPD-Opposition im Bundestag sowie die Länder Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg und Bremen schlossen sich mit Normenkontrollanträgen an.

Die noch relativ frisch amtierende Kohl-Regierung hatte damals versucht, das Kräfteverhältnis im Arbeitskampf zugunsten der Arbeitgeber zu verändern. Im Streik um die 35-Stunden-Woche zwei Jahre zuvor hatte die Gewerkschaft erfolgreich eine „Mini- Max“-Streiktaktik angewandt und durch gezielte Streiks bei Zulieferunternehmen die durch „Just in time“-Anlieferung verletzlich gewordene Automobilindustrie weitgehend lahmgelegt.

Der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke (CDU), bestimmte per Erlaß, daß für 315.000 mittelbar streikbetroffene ArbeitnehmerInnen in anderen Tarifgebieten kein Kurzarbeitsgeld gezahlt werde. Sozialgerichte in Bremen und Frankfurt ordneten schließlich doch die Auszahlung an.

Als Reaktion präsentierte die Regierung zwei Jahre später – mit dem Argument, die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit wahren zu wollen – einen neuen Paragraphen 116 AFG. Die Neuformulierung unterschied sich dabei vom alten Paragraphen 116 nur in Feinheiten, weshalb der damalige und heutige Arbeitsminister Blüm nicht müde wird, die Novellierung als bloße „Klarstellung der Rechtslage“ auszugeben.

Die Gewerkschaft dagegen betont, daß durch die Veränderung die Zahlung von Kurzarbeitergeld zur Ausnahme wurde, während sie früher den Regelfall darstellte. Dies aber sei ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Streikfähigkeit der Gewerkschaften (Art. 9 Abs. 3 GG). Denn die Gewerkschaft werde in das Dilemma gestürzt, daß sie entweder den nur mittelbar vom Streik Betroffenen ebenfalls Streikgeld zahlt und dann schnell pleite wäre. Zahlt sie aber nicht, so würden ihre nun völlig erwerbslosen Mitglieder für massiven Innendruck in den Gewerkschaften sorgen. In beiden Fällen bliebe der Gewerkschaft recht bald nur noch die Aufgabe des Streiks übrig. Da auch gar nicht überprüfbar sei, wann den ArbeitgeberInnen denn tatsächlich das Material ausgegangen sei, könnten diese letztlich nach eigenem Gusto ihre ArbeitnehmerInnen „kalt aussperren“. – So die Gewerkschaftsargumentation im Jahre 1986, die auch gestern wieder präsentiert wurde. Inzwischen sind aber immerhin fast zehn Jahre ins Land gegangen, und Anwendung fand der Paragraph 116 bisher nicht. Zwickel versuchte deshalb, die „Fremdbestimmung“ des gewerkschaftlichen Streikkonzepts in den Vordergrund zu rücken.

Norbert Blüm verteidigte das Gesetz in Karlsruhe erneut. Die Neutralität der Arbeitslosenversicherung lasse es nicht zu, daß auf Kosten der Allgemeinheit „Stellvertreterstreiks“ in einzelnen Tarifgebieten geführt würden.

Der Justitiar der Metall-Arbeitgeber, Hubert Stadler, vertrat die Auffassung, daß die Arbeitgeber dem Streikkonzept der IG Metall nichts hätten entgegensetzen können. Die IG Metall plane Zeit, Ort und Tarifgebiet der Auseinandersetzung. Der Vorsitzende Richter Henschel bemerkte nach dem Vortrag Stadlers, ihm kämen „Tränen des Mitleids für die schlechte Position der Arbeitgeber“.

BeobachterInnen schätzen die Erfolgsaussichten der IG-Metall- Klage als eher mäßig ein, da der Gesetzgeber angesichts der bisherigen Erfahrungen offensichtlich nicht über die Stränge geschlagen habe. Erfolg könnte der Klage nur in einem Teilbereich beschieden sein: Bei einer Aussperrung wird eventuell die Anwendung des Paragraphen 116 eingeschränkt.Kommentar Seite 10