■ Deutschland und Ruanda: Geschichte einer Katastrophe
: Der Despot und sein Heiligenschein

Kürzlich erschien in der linken Frankfurter Zeitschrift Novo ein Artikel mit dem Titel „Wie der Westen den Krieg in Ruanda begann“, verfaßt von dem Briten Barry Crawford. „Genozid ist das Schlagwort, mit dem die Ereignisse in Ruanda seit April vergangenen Jahres im Westen gekennzeichnet werden“, verkündete die Unterzeile. „Barry Crawford rückt das Bild der Ereignisse zurecht.“ These des Autors – ein Trotzkist, der ansonsten Pamphlete zur Verteidigung Saddam Husseins und der bosnischen Serben vertreibt – ist, daß „eine auf drei Fronten vollzogene Offensive des Westens“ den bis 1994 herrschenden ruandischen Präsidenten Habyarimana „an die Wand gedrückt“ habe. Der Völkermord, der nach dem Tod Habyarimanas am 6. April 1994 begann, wird als „verzweifelte Orgie des Mordens“ beschrieben, die „angesichts der vollständig zerrütteten Lage Ruandas nach fünf Jahren westlicher Manipulation nicht verwundern“ könne.

Es war kein Ausrutscher. Schon im Sommer 1994 verteidigte in Novo die Journalistin Sabine Reul das Habyarimana-Regime und verdammte die Demokratisierung Ruandas als „das perverse Vorhaben einer Neuaufteilung der Macht“. Die These einer einzelnen Zeitschrift könnte als Spinnerei abgetan werden – aber sie ist kein Einzelfall. Sie ist der gespenstische Endpunkt einer historisch gewachsenen Blindheit.

Ruanda galt einst als die „Schweiz Afrikas“, ein Land mit guten Straßen und netten christlichen Menschen: sozialromantische Träume von einer egalitären Bauerngesellschaft. Eine Rolle spielte dabei sicherlich Ruandas „Soziale Revolution“ von 1959, als die unter der deutschen und belgischen Kolonialzeit geförderte Tutsi-Monarchie gestürzt und eine Hutu-Republik errichtet wurde. Waren die Hutu schließlich nicht die zuvor unterdrückte Bevölkerungsmehrheit, so wie die Schwarzen in Südafrika? Die ethnische Brille ließ Ruanda in einem rosigen Licht erscheinen. Gregoire Kayibanda, erster Präsident Ruandas, galt als humaner Sozialist, ein wenig wie Nyerere im benachbarten Tansania.

Noch immer wird Präsident Juvénal Habyarimana, 1973 durch einen Militärputsch an die Macht gelangt, von vielen Beobachtern im Ausland als eigentlich integrer Herrscher angesehen. Das Ruanda Habyarimanas war ein Eldorado für Entwicklungspolitiker, geliebt und finanziert von Rechten wie Linken in einer großen Koalition der Träumer. Im Rahmen der 1982 auf Empfehlung der Kirche eingerichteten Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda wurde Deutschland zu einem Hauptpartner; das Mainzer Innenministerium bescheinigte Ruandas Regierung 1987, sich „um die Verwirklichung einer an den Grundbedürfnissen der Bevölkerung orientierten Entwicklung“ sowie „mit Nachdruck und Erfolg um die Verwirklichung einer rechtsstaatlichen Ordnung“ zu bemühen.

„Ruanda gilt bis heute als Musterland der Entwicklungshilfe“, schrieb noch im Juni 1990 in der Frankfurter Rundschau die lange in Ruanda tätige Entwicklungshelferin Hildegard Schüring. Habyarimana, behauptete sie, sei „für viele Ruander eine väterliche Autorität“. Als im April 1990 SPD und Grüne im Mainzer Landtag wegen der Menschenrechtslage in Ruanda eine Überprüfung der Partnerschaft forderten, protestierte Schüring im Namen ihres Vereins „Internationale Solidarität und Kommunikation“: „Daß Sie den ruandischen Staatspräsidenten einen Diktator nennen, dürfte Ihnen zukünftige Gespräche mit ruandischen Bürgern und Bürgerinnen recht schwermachen.“

Was für ein Paradies war Ruanda? Nach seinem Militärputsch, den Habyarimana als „Moralische Revolution“ beschrieb, entstand ein Einparteienstaat, in dem der Präsident periodisch mit 99 bis 100 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Habyarimanas Herkunftsregion wurde privilegiert, Opposition unterdrückt. Jeder Bürger war Zwangsmitglied der „Nationalen Revolutionsbewegung für die Entwicklung“ (MRND), und das hatte Folgen:

„Die Masse der Bauern“, schreibt der Historiker André Gichaoua, „war gezwungen, sich zwei halbe Tage in der Woche zu Formen primärer Indoktrination zu melden – als Minimum, und manchmal mehr, wenn zentrale Befehle eine nationale Aufgabe verkündeten. Das war die Bedingung, um Schulgelder, medizinische Versorgung, in manchen Gemeinden auch die Kommunion zu empfangen oder einfach um sich zu bewegen: Das ,Umuganda-Heft‘ über obligatorische Gemeinschaftsarbeit wurde von den Gemeindebehörden geführt, manchmal direkt von den Gruppenleitern der Entwicklungsprojekte mehrerer großer Geldgeber, und mußte bei Polizeikontrollen vorgezeigt werden.“

Haben die Entwicklungshelfer nichts gemerkt? Sie müssen zumindest das politische System ihres Gastlandes gekannt haben. War es den Helfern vielleicht ganz recht, daß sie von der Regierung eine Bauernschaft zwecks Entwicklung quasi gestellt bekamen?

Spätestens 1990 wäre es möglich gewesen, die rosaroten Brillen abzunehmen. Im Oktober dieses Jahres begann der ruandische Bürgerkrieg, als die Rebellenbewegung „Ruandische Patriotische Front“ (RPF) – hauptsächlich bestehend aus nach Uganda geflohenen ruandischen Tutsi – nach Ruanda einmarschierte. In Reaktion darauf machte Habyarimana die Ethnizität zum zentralen Mittel seiner Politik. Politische Konflikte galten von nun an pauschal als Hutu-Tutsi-Konflikte. Die Verteidigung des Regimes geriet zur Verteidigung der Hutu-Herrschaft gegen angebliche Tutsi-Restaurationsgelüste, die Kritik des Regimes mithin zum Verrat am Hutu-Volk. In den ersten Kriegstagen wanderten Tausende Regimegegner – Hutu wie Tutsi – dem Pinochet-Modell entsprechend in das zum Freiluftgefängnis avancierte Stadion von Kigali.

Die Große Koalition der Habyarimana-Freunde aber blieb intakt: In Rheinland-Pfalz stellte sich die Landesregierung nach einer Anfrage der Grünen auf die Seite des Präsidenten, und in Berlin offerierte ein Kreuzberger Dritte- Welt-Buchladen einer „Ruandischen Gemeinschaft“ Räume für eine Pressekonferenz, auf der alte rassistische Verschwörungstheorien von Tutsi-Großreich-Träumen ventiliert wurden. Die „Ruandische Gemeinschaft“, die später auch öffentliche Veranstaltungen in Berlin abhielt, gab gegenüber der taz freimütig zu, sich auf Aufforderung der ruandischen Botschaft gegründet zu haben.

Kritik an Habyarimana blieb in Deutschland ein Sonderfall. Als der Oppositionelle Shyirambere Jean Barahinyura nach seiner Flucht aus Ruanda in Deutschland Asyl erhielt und Bücher gegen das ruandische Regime schrieb, erregte das großes Aufsehen und im Juni 1990 eine enthusiastische Besprechung des Journalisten Wieland Giebel auf einer ganzen Seite der taz. Barahinyura wurde zum Star derjenigen, die meinten, keine rosarote Brille mehr zu tragen. Doch schon in seinem 1989 erschienenen Buch „Generalmajor Habyarimana: Die Schreckensherrschaft eines scheinheiligen Despoten in Ruanda“ war zwischen den Zeilen die Herkunft seiner Opposition aus unzufriedenen radikalen Hutu-Überzeugungen zu lesen. 1990–91 war Barahinyura kurzzeitig Europasprecher der RPF, verließ die Organisation aber schnell wieder und präsentierte sich zwei Jahre später als Europasprecher der rassistischen Hutu- Partei CDR („Koalition zur Verteidigung der Republik“), die 1993–94 ein Sammelbecken der Völkermordplaner wurde. Sein 1992 in Frankfurt verlegtes Pamphlet „Ruanda 32 Jahre nach der Sozialrevolution von 1959: Reflexionen über die Terrorbewegung der Kakerlaken und der verjüngten Kakerlaken alias RPF in ihrem Versuch einer Restauration der Tutsi-Macht in Ruanda“ liest sich streckenweise wie ein Manifest des Genozids: „Der Hutu ist von Natur aus gut und ehrlich, während der Tutsi böse, zynisch, betrügerisch und listig ist“, heißt es da, und vom „hinterlistigen Eindringen der Tutsi in Hutu-Kreise“ ist die Rede – exakt die Argumentation, mit der 1994 alle Befürworter einer politischen Verständigung in Ruanda, ob Tutsi oder Hutu, auf die Todeslisten gerieten.

Barahinyuras Wandlung müßte zumindest als Hinweis dafür dienen, wohin die undifferenzierte Handhabung der Hutu-Tutsi- Schablone führen kann. Die Geschichte, wie im einzelnen aus der Ideologie der „Moralischen Revolution“ der Wille zum Völkermord wuchs, muß noch geschrieben werden. Die Deutschen, die jahrelang in Ruanda lebten, könnten dazu einiges beitragen.

Einzelne brachen im Frühsommer 1994, am Höhepunkt des Mordens, das Schweigen und offenbarten in Zeitungsanalysen beispielsweise in der taz und der FR die ganze Perfidie des Habyarimana- Systems. Manche versuchten, ihr Weltbild zu wahren: So warb noch im Juni 1994 Hildegard Schüring in der Dritte-Welt-Zeitschrift Blätter des IZ3W um Anerkennung für Ruandas Machthaber und ihren „Willen, den Krieg und die Massaker zu beenden“ – gemeint war das im April neu gebildete, im Ausland nicht anerkannte Kabinett, das den Völkermord befehligte und sich heute von Zaire aus als bewaffnete Exilregierung begreift. Die Mehrheit der Helfer aber hat sich nicht öffentlich zu Wort gemeldet.

Ein Jahr nach dem Beginn des Völkermords arbeiten wieder Deutsche in Ruanda – nun eben mit der neuen RPF-dominierten Regierung, deren größter einzelner Geldgeberstaat Deutschland ist. Aber wohin soll das führen, wenn es keine Selbstkritik gibt? Die Katastrophe in Ruanda ist auch eine Katastrophe der Entwicklungshilfe. Dominic Johnson