Schottland ist anders

Bei den Kommunalwahlen dominiert der Ärger über die Regierung in London / Die Gewählten treten ihr Amt erst in einem Jahr an  ■ Aus Edinburgh Ralf Sotscheck

Hamish hat die Schnauze voll. „Seit 16 Jahren wähle ich die Labour Party“, sagt er, „und seit 16 Jahren regieren uns die Tories hier in Schottland“. Bei den heutigen Lokalwahlen will er seine Stimme deshalb zum ersten Mal den Nationalisten, der linken Scottish National Party (SNP), geben. Hamish ist Ende dreißig. Er arbeitet normalerweise auf dem Bau, ist aber zur Zeit arbeitslos – „saisonbedingt“, sagt er. Die meisten Tage verbringt er in der Boundary Bar. Die Kneipe heißt so, weil sie auf der Grenze zwischen Edinburgh und Leith, dem Hafenviertel der schottischen Hauptstadt, liegt. Leith war eine eigenständige Stadt, bis sie 1920 eingemeindet wurde. Hinter dem Tresen hängt noch die Grenzmarkierung: ein Messingstern, der auf eine Holztafel montiert ist. Die Kneipe öffnet morgens um fünf Uhr. Früher kamen die Hafenarbeiter nach – oder vor – der Schicht herein, heute sind es hauptsächlich die Alkoholiker des Viertels. In Leith halten sich Labour Party und SNP die Waage. Das liege zum Teil am „Leith Project“, einer Finanzspritze für den heruntergekommenen Bezirk, die beide Parteien gemeinsam bewilligt haben, sagt Paul. Der große, glatzköpfige Schwarze lehnt an der Theke und bestellt einen Kaffee. Die Wirtin, die jeden neuen Gast mit Vornamen begrüßt, weist das Geld für den Kaffee zurück. „Das Wasser hat sowieso gerade gekocht, weil ich mir einen Tee gemacht habe“, sagt sie. Paul ist Labour-Mitglied. „Die Tories werden baden gehen“, hofft er, „aber auf die SNP müssen wir bei den Kommunalwahlen aufpassen“.

Es sind merkwürdige Kommunalwahlen: Die Gemeinderäte, die heute gewählt werden, treten ihre Ämter erst in einem Jahr an. Grund dafür ist die Umstrukturierung der schottischen Verwaltung: Gab es bisher neun Regional- und 53 Distriktverwaltungen, so werden es ab 1996 nur noch 29 gleichgestellte Behörden sein. An der Zahl der Sitze ändert sich dadurch freilich kaum etwas. Die Labour Party stellt rund zwei Fünftel der 1.160 Gemeinderäte, die Tories nicht mal ein Fünftel. Und sie müssen damit rechnen, einen Großteil davon heute zu verlieren. Daphne Sleigh, die Vorsitzende der Edinburgher Tories, bittet die WählerInnen, sich nicht von der Landespolitik beeinflussen zu lassen. Während des Wahlkampfes beschwor sie die Kabinettsmitglieder in London, sich bloß nicht in Schottland sehen zu lassen. Um den HauptstädterInnen die Konzentration auf lokale Themen zu erleichtern, versprach Sleigh ihnen eine Steuerrückzahlung in Höhe von hundert Pfund pro Haushalt.

Der Stimmenkauf wird jedoch nicht funktionieren, dazu ist der Ärger über die Londoner Regierung viel zu groß. Besonders erbost ist man über die abfälligen Bemerkungen über ein schottisches Regionalparlament, das die Labour Party im Falle ihres Wahlsiegs bei den Unterhauswahlen in zwei Jahren versprochen hat. Der Tory- Vorsitzende Jeremy Hanley höhnte Anfang der Woche, die Labour Party sorge sich rührend um ihre „Lieblingsminderheiten, die am politischen Rand“ lebten. Solche Bemerkungen hören auch die schottischen Tory-AnhängerInnen nicht gerne. Viele von ihnen werden heute wohl zu Hause bleiben. Laut Umfragen ist die Unterstützung für die Konservativen auf elf Prozent gesunken. Sollte es auch bei den englischen und walisischen Kommunalwahlen in vier Wochen ein Debakel geben, muß sich Premierminister John Major wohl auf einen Gegenkandidaten auf dem Tory-Parteitag im Herbst einstellen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Konservativen zum ersten Mal in den Gemeinden landesweit hinter Labour und den Liberalen Demokraten auf Platz drei zurückfallen, ist ziemlich groß.

Schottische Labour-PolitikerInnen sind optimistisch, daß viele Tory-AnhängerInnen aus Protest gegen die geplante Privatisierung der schottischen Wasserwerke und das kategorische Nein zu einem Regionalparlament heute zu Labour überlaufen werden. Viel hängt von der Wahlbeteiligung ab: Keine Partei rechnet mit mehr als 40 Prozent. Je weniger zur Urne gehen, desto besser stehen die Chancen für die SNP, weil ihre WählerInnen hochmotiviert sind. Bei Meinungsumfragen liegt sie bei 25 Prozent, die Liberalen bei neun und die Labour Party bei 53 Prozent. Labour schneidet bei Wahlen aber seit langem stets zehn Prozent schlechter ab, als der Partei zuvor prophezeit wurde.

Daß die Kommunalwahlen seit Montag in aller Munde sind, verdankt Labour jedoch einem Gerichtsurteil: Wenige Minuten vor Beginn von „Panorama“, einem politischen Fernsehmagazin, untersagte ein Gericht in Edinburgh der BBC die Ausstrahlung in Schottland. Der Grund: Die Sendung enthielt ein 40minütiges Interview mit John Major, und die Oppositionsparteien sahen darin einen unfairen Vorteil für die Tories. Patrick Chalmers, der bis vor drei Jahren BBC-Chef in Schottland war, tobte: „Die Londoner Deppen haben der Integrität des BBC-Journalismus schweren Schaden zugefügt und Schottland marginalisiert.“ Paul meint dagegen sarkastisch, daß die schottischen Tories hinter dem Sendeverbot stecken: „Sie wollten ein weiteres Major-Eigentor verhindern.“

Labour hofft darauf, in mindestens 15 der 29 neuen Bezirksverwaltungen die absolute Mehrheit zu erringen. Für Labour-Chef Tony Blair steht viel auf dem Spiel. Obwohl er aus Edinburgh stammt, mißtrauen die schottischen Labour-Mitglieder seinem Reformkurs, der die Partei immer weiter nach rechts treibt. „Blair ist ein englischer Politiker, der nicht versteht, daß Schottland anders ist als die übrigen Teile Großbritanniens“, sagt Paul, der bereits als 16jähriger in die Partei eingetreten ist. Schottland hat die Thatcher- Jahre relativ unbeschadet überstanden, der Wohnungsbau, der Bildungsbereich und die Gesundheitsfürsorge sind nach wie vor fest in staatlicher Hand – und das will kaum jemand in Schottland ändern. „Bei Blair kann ich den Verdacht nicht loswerden, daß er die alten Labour-Werte aus taktischen Gründen jederzeit über Bord werfen könnte“, meint Paul.

Die schottische Labour Party ist gegen die Abschaffung der „Clause 4“, in der sich die Partei auf öffentliches Eigentum an den Produktionsmitteln verpflichtet, aber man hält noch still. „Das funktioniert aber nur dann“, warnt Paul, „wenn Blair seine Versprechen erfüllt: Eine Labour-Regierung in Westminster und dann ein schottisches Parlament“. Sollte es bei den nächsten Unterhauswahlen wieder schiefgehen, wird sich die schottische Labour-Sektion möglicherweise von der Partei abspalten, damit ihr nicht die WählerInnen zur SNP davonlaufen.