Schweinefüße und Rippchen

Gossen-Aristokratie: Heute wäre Billie Holiday achtzig Jahre alt geworden  ■ Von Mariam Niroumand

Während des Jazzfestes in New Orleans vor einigen Jahren wurde eine Performance angekündigt, die mich höchst neugierig machte. In einem recht aparten Kellerlokal wollte man „The Story of Billie Holiday“ geben, von den obskuren Anfängen bis zum opiumschwarzen Ende. Noch ganz beglückt von der Tatsache, daß „Jazzfest“ hier „Volksfest“ hieß – mit Mutti, Opa und jungen Mädchen, die Tallulah gerufen wurden und nicht ins Gospel-Zelt wollten – hockte ich mich an einen Tisch, um zunächst festzustellen, daß ich ernsthaft „underdressed“ war. Yes Sir! Die Damen und Herren waren in gestärkten weißen Hemden und blitzenden Abendgarderoben angerauscht und lächelten seltsam feierlich. Auch als die schöne Lady auf der Bühne im Paillettenkleid ein paar Zoten abschoß, die Sandra Bernhard nach dem Nachtportier hätten rufen lassen, wich die melancholische Andacht nicht von den Gesichtern.

Do nothing till you here from me: Liebe und Respekt, auch nach dem fünfzehnten Drink noch, für die Dame, die langsam zu lallen anfing, langsam immer weniger wurde (Hatte sie wirklich geschwollene Junkie-Hände, oder fantasierte man die zu ihrem Fixer- Näseln?), sich aufrappelte, dann schließlich verstummte und mitten durch den schweigenden Saal – nicht etwa durch den Bühnenausgang – auf die Straße hinausging und verschwand.

Die Actrice muß ihre Sache ziemlich gut gemacht haben, denn Donald Clarke, dessen Holiday- Biographie dieser Tage auf deutsch erscheint, hat genau so die Wirkung von „Lady Day“ auf ihr niemals völlig mainstreamiges Publikum beschrieben. Anders als Sarah Vaughan, Dinah Washington oder Lena Horne – eindeutig Holiday-Epigonen – mußte man ihr zuhören wie man dem Tenorsaxophon von Lester Young zuhören mußte, der ein Seelenverwandter von ihr wurde. Ihr Gesang leuchtete nicht unmittelbar ein. Mit der Sicherheit eines Schlafwandlers schlenderte sie in ihrem Legato hinter dem Takt her, cool, cool, cool, um ihn plötzlich auf einer anderen Note zu erwarten.

Eigenartige Form von Katholizismus

Sie hat nie Mätzchen auf der Bühne gemacht, in den ersten paar Jahren schnippte sie höchstens mit den Fingern, später stand sie einfach nur so da, Lady Day eben, manchmal mit gewissen Blumen im Haar. Eine zeitlang lag sie völlig im richtigen Trend: Zur selben Zeit, als aus den Jahrmarkts-Routinen der Filmstudios sich Stars herauszuschälen begannen, stachen aus den Big Bands Interpreten heraus, und sie war eine Interpretin, wenn es je eine gegeben hat.

Über Pigtown, ein Slum in Baltimore, wo Holidays Vorfahren herkamen, ließ man sich in einer weißen Tageszeitung folgendermaßen vernehmen: „Offene Sickerrohre ... Asche und Abfall, Keller voll brackigem schwarzen Wasser; schurkisch aussehende Neger, die an den Ecken herumlungern; verderbte Frauen, deren Blöße nur mit einem Hemd bedeckt ist, räkeln sich in den Hauseingängen und stoßen widerliche Kraftausdrücke gegen jeden, der vorbeigeht, aus; Fäulnisgeruch.“ Billies eigenartige Form von Katholizismus stammte daher, daß einer der Sklavenhalter, dessen Namen die Familie angenommen hatte, Ire war. Ihre Mutter, Sadie, schlug sich ohne den Musiker Clarence Holiday, der nie auf der Geburtsurkunde verzeichnet war, mit Dienstmädchen- und Schneiderinnenjobs durch. Sie konnte wohl kaum verhindern, daß ihre 1915 geborene Tochter Eleanora bei den guten Schwestern vom Mädchenheim „Good Shephard“ landete; mit Zehn lebte sie längst meist auf der Straße. Die Versuche der Mutter, mit Hilfe von Stickdeckchen oder auch schon mal einem Revolver, mit dem sie nach entlaufenen Liebhabern fuchtelte, eine bürgerliche Fassade aufrechtzuerhalten, konnte Eleanora wahrscheinlich nur belächeln. Als Teenager verdiente sie längst mehr als ihre Mutter, die bei Weißen putzte, weil sie Schwarze und Weiße ausnahm, die oft und gern zu ihr kamen, einschließlich ihrer Zuhälter. Seidenstrümpfe – rot, schwarz, fliederfarben – kosteten 25 Cent.

Um Leute wie Chick Webb oder Frank Zappa hervorzubringen, mußte Baltimore es irgendwo haben. Es gab einige Clubs, montags ging man aus: Nadelstreifenanzug, Homburgs und ein bißchen Marihuana, Brombeerwein und Limonade. Auf den Bühnen gab es Vaudeville. Ende der zwanziger Jahre ging Billie Holiday direkt nach Harlem, wo sie von Florence Williams, der einflußreichsten Puffmutter am Platze untergebracht wurde. Die Harlem Renaissance mit ihren europäisierenden Salons und Dichterposen war eine Sache; der Harlem Rush eine andere, mehr Straßenmusik, Tanzhallenereignis, 4/4 Takt. Holiday begann damit, Armstrong-Lieder nach eigenem Gusto umzudichten: „Jeepers, Creepers“, „I Surrender Dear“, mit schwerer, rauher Stimme. Der Mut dazu wiederum, so sagte sie später, kam vom Zuhören bei Bessie Smith. Es dauerte nicht lange, da verlangte man in den Clubs nach ihr. Die ersten Plattenaufnahmen fielen genau in die Zeit, als das Alkoholverbot aufgehoben wurde und im ganzen Land Kneipen aus dem Boden schossen. Professionelle Swingkombos entwickelten mit ein paar Sängern und Sängerinnen so etwas wie die Urform des Popsongs: Einerseits weg vom Vaudeville und seinen Holzschnittrollen, aber auch jenseits vom erzählerischen Blues. Absolut niemand hat in der Zeit so eine komplizierte musikalische Position besetzt wie Holiday: Interpretativ zu arbeiten, an der Melodie vorbei zu phrasieren, aber eben mit „Gassenhauern“, die drei Minuten dauerten und schon bald in die Juke-Boxen gefüttert werden konnten. Natürlich war diese Position ein Spiegel ihres eigenen Werdegangs, der Gossen-Aristokratie, die sich irgendwann selbst fressen mußte, weil sie auf keiner der beiden Seiten wirklich unterzubringen war. Weder von Louis Armstrong noch von Ella Fitzgerald gab es so etwas wie Holidays „I wished on the moon“: „I wished on the moon, for something I never knew/ A sweeter rose, softer skies/ Warm April days, that would not dance away/ I begged on a star, to throw me a beam or two ...“ Bing Crosby stellte den Song in seinem Film „Big Broadcast of 1936“ vor.

Sämtliche Burschen, mit denen Billie Holiday damals spielte, waren von ihrem Timing und ihrer Phrasierung hingerissen, mit denen sie eben Pop wie Jazz produzieren konnte, ohne auch nur einen Hauch musikalischer Vorbildung zu haben. (Daß es, zwanzig Jahre später, mit ihr zu Ende ging, hat Memry Midgett, die Pianistin bei ihrem letzten Konzert mit Count Basies Band in der Carnegie Hall, gemerkt, als sie sechsmal die Einleitung zu „Blue Moon“ spielen mußte, und Holiday sich hilflos zu ihr umdrehte, als schon alle, auch das Publikum soufflierten: „Blue Moon“! Sing „Blue Moon“!)

Nahe dem Central Park richtete sie ihrer Mutter ein Restaurant ein. Es gab Soulfood, vor allem Schweinefüße und Rippchen; jeder Musiker ohne Engagement bekam ein Dach über dem Kopf. Es war Partytime, von Drogen und Melancholie keine Spur. Als sie ein paar Wochen später mit Count Basie und dessen Saxophonisten Lester Young auf Tournee ging, muß sie einstweilen ungestüm glücklich gewesen sein und neunzig Pfund gewogen haben. Lester nannte sie „Lady Day“, wie man sie fürderhin allenthalben nannte; sie nannte den Count „Daddy Basie“, und er wiederum nannte sie, die ab und an mit Mädchen schlief, „William“. Unterwegs im Süden konnten sie nicht immer im gleichen Hotel übernachten; sie spielten in Tabakscheunen. Aus dieser Zeit existieren ärgerlicherweise kaum Plattenaufnahmen, weil die weiße Musikbranche irgendetwas dagegen hatte, daß „girl singers“ sich mit Big Bands mischen. So entstand der Mythos, die Lady sei immer nur mit Kammerjazz-Besetzungen gut gewesen, am liebsten nur mit einem Pianisten. Vielleicht zu promisk, das Mädchen als „one of the boys“.

Eine Art „Todesfuge“ der Gelynchten

Der Turn zur „chanteuse“, das ist bekannt, kam mit „Strange Fruit“, einem Lied, mit dem die Holiday zunächst überhaupt nichts anfangen und das sie später nur noch zum Abschluß singen konnte, eine Art „Todesfuge“ für die Gelynchten der Südstaaten. Es stammte bezeichnenderweise nicht etwa von einem Schwarzen, sondern von dem jüdischen Dichter Lewis Allan alias Abel Meeropol, der übrigens später die Kinder von Ethel und Julius Rosenberg adoptierte, nachdem diese hingerichtet worden waren. Er ließ es der Holiday in einer Zeit zukommen, als sie Benifizkonzerte für Spanien gab. Sie kannte das Wort „pastoral“ nicht: „Southern trees bear a strange fruit/ Blood on the leaves and blood at the root/ Black bodies swinging in the Southern breeze/ Strange fruit hanging from the poplar trees/ Pastoral scenes of the gallant South/ The bulging eyes and the twisted mouth/ Scent of magnolias, sweet and fresh/ Then the sudden smell of burning flesh.“

Man ließ bei „Strange Fruit“ die Säle dunkel, bis auf einen Lichtkegel auf ihrem Gesicht, es wurde nichts mehr serviert, die Kellner durften kein einziges Glas mehr bringen. Nach diesem Song kam sie auch nicht mehr für eine Verbeugung auf die Bühne, auch nicht bei tosendem Beifall. Aus dem Apollo in New York erzählt Jack Schiffman, daß, wenn sie fertig war, „ein merkwürdiges, fast knirschendes Geräusch“ zu hören war: „Es war der Klang von fast zweitausend Seufzern.“ Bis dahin, so Clarke, hatten die überregionalen Zeitschriften nie Fotos von Schwarzen gedruckt, auch keine berühmten Opernsängerinnen. Kurz nachdem Billie das erste Mal „Strange Fruit“ gesungen hatte, kam Time/Life, schoß Fotos und druckte den gesamten Text.

Eigentlich ist sie mittlerweile für den Rest bekannter, fast schon eine Ikone des tragischen schwarzen Künstlertodes, der in diversen, besser beschwiegenen Filmversuchen seinen Niederschlag fand: Für die zerstochenen Arme, die von ihr verprügelten Pianisten, die aufgequollen Füße, die in keine Pumps mehr paßten, das Set aus Strick- und Spritznadeln, daß sie immer bei sich trug. Für die sadistischen Mackie Messers, die sie „My man“ nannte, und die sie, auf ihren Wunsch hin, grün, blau und blutig schlugen und ausnahmen. Und für den Zombie mit dem Leberzirrhose-Bauch, als der sie am 17. Juli 1959 in einem New Yorker Krankenhaus starb. Erst jetzt, langsam, fällt auf, daß ihre lauthals lachende Aristokratie, durch keine Plattenfirma und kein Movement gedeckter, seltsamer autonomer Kult war. Irgendwie, und das spürt man bis eben dieser Tage in New Orleans nach, war sie einer der ersten „Niggaz with Attitute“.

„Billie Holiday – Wishing on the Moon“. Eine Biographie von Donald Clarke. München: Piper Verlag, 615 Seiten