"Lieber hier sterben als zurück"

■ Diplom-Psychologin Ruth Nickel vom Diakonischen Werk Hagen über kurdische Folteropfer und ihre psychische Labilität / Mitunter würden sogar Asylanträge von Folteropfern abgelehnt / Die Gefahr von...

taz: Frau Nickel, Sie kümmern sich seit langem um Folteropfer aus der Türkei. Haben Sie in den letzten Monaten rein zahlenmäßig eine Veränderung gespürt?

Ruth Nickel: Mir ist aufgefallen, daß seit November 1994 vermehrt Kurden nach Deutschland kommen, die in einem ganz schlechten gesundheitlichen und psychischen Zustand sind, eine Folge der Folter. So schlecht, daß sie zum Teil wochenlang stationär behandelt werden müssen, bevor an eine ambulante psychotherapeutische Behandlung zu denken ist. Diese Menschen berichten übereinstimmend, daß sie im Osten der Türkei in verschiedenen Städten von uniformierten Kräften festgenommen und gefoltert worden sind. Sie wurden in sehr enge Zellen gesperrt, in denen sie nur mit angewinkelten Beinen sitzen konnten. Raus kamen sie nur zu den Verhören. In der Regel zielten die Verhöre meiner Klienten darauf ab, Informationen über vermeintliche PKK- Kontakte, auch aus dem Umfeld der Festgenommenen, zu erfahren. Wer schweigt, wird gefoltert.

Welche Methoden werden dabei angewandt und wie viele Folteropfer haben sich bei Ihnen gemeldet?

Seit November 1994 haben etwa 30 gefolterte Kurden den Weg zu mir gefunden. Sie schildern übereinstimmend, daß sie sich nackt ausziehen mußten und dann zunächst am ganzen Körper mit Fußtritten und Faustschlägen traktiert wurden. Man hängte sie an den Füßen auf und spritzte sie mit eiskaltem Wasser ab. Frauen berichten von Vergewaltigungen, Männer davon, daß ihnen ein harter Gegenstand in den After getrieben wurde. Sie bekamen Elektroschocks an den Genitalien, und vor ihren Augen wurden Angehörige gequält. Zwei Personen berichteten mir, Mithäftlinge seien aus dem Fenster geworfen worden.

Haben Sie körperliche Spuren der Folter bei ihren Klienten gesehen?

Ja, zerschlagene Nasen, Narben am ganzen Körper. Mehrere Menschen haben mir die Spuren gezeigt, die durch das Ausreißen von Fußnägeln entstanden sind.

Und die psychischen Folgen?

Alle haben sehr starke Ängste, Schlafstörungen, Alpträume. Häufig ist es so, daß sie in Alltagssituationen diese Verhöre und Folterungen noch einmal durchleiden. Sie erleben zum Beispiel ganz normale Befragungen beim Arzt als Verhöre. Depressionen, Minderwertigkeitsgefühle, Ohnmachtsanfälle, Kopfschmerzen, Suizidgedanken und zum Teil auch Suizidversuche sind weitere Folgen. Ganz auffällig ist ein allgemeiner Vertrauensverlust gegenüber anderen Menschen, so daß es in der Therapie oft sehr lange dauert, bevor ein Vertrauensverhältnis entsteht und Menschen über ihre Erlebnisse offen sprechen.

Gab es unter den Opfern auch Menschen, die von Folterungen im Westen der Türkei, also außerhalb der Kurdengebiete, berichtet haben?

Ja, eine junge Frau, der vorgeworfen wurde, eine PKK-Sympathisantin zu sein, erzählte von Folterungen in Instanbul.

Kennen Sie Folteropfer, deren Asylantrag in Deutschland abgelehnt wurde?

Ja. Es gibt Menschen, die sind zunächst psychisch gar nicht in der Lage, über ihre Foltererlebnisse bei der Anhörung im Asylverfahren zu reden. Dazu zählen Frauen, die sich geschämt haben, über ihre Vergewaltigung im Angesicht der männlichen Dolmetscher und sonstigen Verfahrensbeteiligten zu sprechen. Ich habe mich in diesen Fällen während der Therapie an Anwälte gewandt, und den Frauen wurde dann per Verwaltungsgericht Asyl gewährt. Ich kenne aber auch einen schwer gefolterten Mann, dessen Asylantrag rechtskräftig abgelehnt worden ist und der nur noch wegen des Abschiebestopps in Deutschland bleiben durfte. Nach der Aufhebung des Abschiebestopps in NRW hat dieser Mann jetzt wahnsinnige Angst. Er erlebt die Folter jetzt noch einmal. Ich kann mir sogar vorstellen, daß dieser Mann eher Selbstmord begeht, als sich abschieben zu lassen. Wir haben in diesem Fall den Petitionsausschuß des Düsseldorfer Landtags angerufen und es wird auch über Kirchenasyl diskutiert. Folteropfer sagen mir immer wieder, lieber hier sterben als den Folterern noch einmal in die Hände fallen.

Ihr Kommentar zum Streit um den Abschiebestopp?

Mich empört das. Mir kommt das wie ein Gerede am grünen Tisch vor, von Leuten, die gar nicht begreifen, daß es dabei um existentielle Menschenschicksale geht. Interview: Walter Jakobs