Dreißig untolle Ziele: Rudolf, wir kommen!

■ Parteipolitisches Reiseführer-Sponsoring – mit besten Empfehlungen der SPD

Eine freche, jung-dynamische, multieuropäische Rasselbande (drei Jungs, einer davon mit rotem Kopftuch, und zwei Mädels) bleckt auf dem Buchdeckel die Kukident- weißen Zähne. Breitestes Cheese- Lächeln. Wir schlagen das 96 Seiten dünne Jackentaschen-Bändchen auf und – Schreck laß nach! – Rudolf Scharping, als Strahlemann, blickt uns von der Umschlagklappe entgegen. Im Vorwort zum „Marco Polo“-Reiseführer „Die 30 tollsten Ziele in Europa“ erzählt er wie ein Märchenonkel den jungen Menschen vom hohen Gut der „Völkerverständigung“ durch Reisen, also: „daß sich Menschen durch Reisen näherkommen“.

Was treibt die SPD an, sich plötzlich am Reiseführer-Markt zu beteiligen und mit „Marco Polo“ gemeinsam das Bändchen herauszugeben? Was soll das parteipolitische Reiseführer-Sponsoring? Warum biedert sich der Pfälzer Bub so bei den jungen Menschen an und verschickt sie im Namen der SPD auf die tolle Europareise?

Ein Blick in die zusammengewürfelte Reisewundertüte („Dreißig faszinierende Reiseziele für junge Leute, verschieden wie die Gesichter Europas“) verwirrt dann vollends. Die tollsten Ziele, also Swinging London, das Coffee- Shop-Amsterdam oder der Szenetreff Berlin? Hoho, weit gefehlt! Wo die Urlaubs-Post abgeht, ist gaaanz woanders. Zum Beispiel in Kinsale (Irland), Es Pujols (Spanien), São Pedro de Muel (Portugal) Texel (Niederlande), Malcesine (Italien), Cap Camarat (Frankreich)? Oder aber in Flachau! Wo bitte? Der Führer verrät allen tollen Typen, wie man dort hinkommt: „Bevor die Tauernautobahn, die von der Stadt Salzburg in den Süden führt, einen langen Tunnel durch die Niederen Tauern erreicht, bezeichnet ein Schild die Ausfahrt nach Flachau.“ Und der beliebteste Flachauer Jugendtreff ist die „Yeti-Bar, die deswegen so attraktiv ist, weil sie an einer 1.200 Meter langen Flutlichtpiste liegt“. Wie bitte, nie was gehört vom „tollen Ziel“ Flachau? Auch die drei tollsten Ziele in Deutschland haben es in sich: Usedom, Hiddensee und – Templin! Ja, Templin, die „Perle der Uckermark“! Wie hatte Scharping im Vorwort doch „die vollkommen neuen Reisemöglichkeiten gepriesen“, die sich durch den „Fall der Mauer, die Öffnung der Grenzen osteuropäischer Länder“ ergeben hätten. Und dann das: Nicht ein einziges „tolles Ziel“ in Osteuropa“, nur das „junge Europa“ – und das endet schön EU-mäßig und westeuropäisch-integrativ an der Oder-Neiße-Grenze!

Irreführende Titel-Werbung. Denn eigentlich geht es dem „Reiseführer mit Insider-Tips“ gar nicht um die tollsten Ziele; vielmehr will er „Lust auf neue Reiseziele“ (Rudolf im Vorwort) machen. Und damit das ganze Unternehmen auch einen schön seriösen Anstrich hat, stützen sich die Herausgeber auf eine empirische Untersuchung, wo zweitausend junge Leute „über ihre Urlaubsträume, ihre Erfahrungen und ihre Lieblingsurlaubsorte“ ausgehorcht wurden. Und kommen zu dem Fazit: „Reisen heißt für junge Menschen Tapetenwechsel, aus dem Alltag ausbrechen und neue Eindrücke sammeln – für die meisten jungen Leute ist dies der verzweifelte Kampf um den besten Liegestuhl.“

Shame on you, Ihr Marco-Polo-/ SPD-Herausgeber. Sechs! Setzen! Möge Euer Tollort-Bändchen keine zweite Auflage erleben! Doch was lesen wir auf der hinteren Umschlagklappe? Eine weitere Ausgabe von „Die 30 tollsten Ziele in Europa“ soll erscheinen. Bei der Auswahl der Orte – die SPD ist da schon partizipatorisch – „können Sie mitmachen – berichten Sie von Ihrem Geheimtip für junge Leute“. Als Belohnung für erfolgreiche Reise-Spürnasen winken sozialdemokratische Traumgewinne: „Unter allen Einsendungen verlost die SPD 3 x 2 Interrail- Tickets für die Saison 1995 sowie 97 Exemplare der neuen Ausgabe von...“

Die 30 tollsten Ziele in Europa, Marco-Polo-Reihe, Mairs Geographischer Verlag, Ostfildern, 1994, 9,80 DM