Zwischen den Rillen
: Acid Jazz ist tot

■ Major-Dealer und Minor-Deals: Die Big-Banana-Avantgarde

Nur gute News aus der Jazzwelt: Henry Threadgill hat mit 51 den Major-Deal abgegriffen, der sein und unser aller Leben etwas versüßen soll! In 37 Minuten eilt sein Very Very Circus- Ensemble auf „Carry The Day“ von Ohrwurm zu Ohrwurm, eine Hitsammlung für Süchtige, die ahnten, daß Jazz mit Spaß zu tun hat. Die Bill-Laswell-Produktion kommt aus dem Marsalis-Kaufhaus Columbia/Sony und signalisiert das Ende der Young Lions und anderer Zumutungen des Jazz-Hype der letzten Jahre. Auch Wynton Marsalis hat nun sein Septett aufgelöst und verspricht Großes: Im Juni geht er mit Cassandra Wilson, Jon Hendricks und James Carter ins Studio, um sein Drei-Stunden-Epos „Blood On The Fields“ aufzunehmen.

Bei Threadgill dauert die Aufarbeitung schwarzer Geschichte knapp acht Minuten, „Jenkins Boys, Again, Wish Somebody Die, It's Hot“, die Baumwollsklaven auf den Südstaatenplantagen bekamen nur dann frei, wenn ein Mitglied aus des Masters Familienclan das Zeitliche segnete. Die schrulligen Titel der Threadgill-Songs wie „Growing A Big Banana“, „Between Orchids, Lillies, Blind Eyes And Cricket“ und „Hyla Crucifer... Silence Of“ suggerieren Programm und Konzept, das offen bleibt wie selten im Jazz. Witzig, ironisch, unverschämt und traurig bläst Threadgill sein Alto durch fragmentarische Melodien und explosive Rhythmen, und der Titelsong „Carry The Day“, mit spanischer Melodie, Akkordeon und AACM-Farben klingt so, als hätte Threadgill hier den Soundtrack zu Gilles Petersons aktuellem Statement komponiert: „Acid Jazz ist tot.“ (Auch so eine gute Nachricht!) So klingt die Tanzmusik aus der Avant-Küche mit Wu Mans chinesischer Laute und Jason Hwangs Geige. Threadgill signalisiert den FreeMusic- Boom, der am Ende dieses Jazzjahrhunderts stehen wird.

Nur die Frage des Nachwuchses wäre noch zu klären. Seit zwanzig Jahren fragen sich die Alten bereits, wo die jungen FreePlayer bleiben, die fähig und mutig genug sind, an einem neuen Kapitel mitzuschreiben. Und die sich auch im Traditional-Lager zurechtfinden. Nur einer ist da in Sicht, und der hat gerade einen Major-Deal bei Atlantic gelandet: James Carter. Mit seiner Balladen-CD „The Real Quiet Storm“ bringt der 26jährige Multibläser das, was der Titel verspricht. Er nimmt hier einstweilen seine Vocalization-Überblastechnik zurück, die er auf zwei überzeugenden Debüt-CDs – „J.C. On The Set“ und „Jurassic Classics“ (beide DIW/BISS) – zu seinem Markenzeichen machte.

Daß Jazz nie eine Frage teurer Klamotten war, darauf weisen Marsalis und Carter zu Recht hin. Lediglich die inzestuöse Ästhetik, die mit dem Retro-Syndrom kam, mobilisiert den Hochkulturbegriff als Rechtfertigung für fragwürdige Besitzansprüche auf die Kunstleistungen Verstorbener – die auf Schallplatten definierten, daß Jazz keine Imitations-Musik ist. So war Louis Armstrong der Avantgardist der Vor- Swing-Ära, nicht der Retro- Apostel im Clown-Kostüm.

Our Man aus Wuppertal, Peter Brötzmann, hat mit Fred Hopkins und Rashed Ali in Berlin „Songlines“ mit Balladen aus der FreeMusic- und NewThink- Perspektive aufgenommen; kein Saxophon-Trio, sondern drei Individualisten, kein europäischer Avantgarde-Scheiß, wie Brötzmann betont, sondern distanzierte Gotteslästerung. Im Booklet dazu der makabre Versuch, Liner Notes im Stil der frühen siebziger Jahre zu schreiben. Der FMP-Hausschreiber Steve Lake versucht sich noch einmal an der großen Weltskizze, um Brötzmann neben Marsalis und Zorn zu plazieren, und scheitert kläglich. So kläglich, daß Brötzmann ihm aus New York zurückschreibt, ... aber lesen Sie doch selbst. Ein großer Hör-Wurf und ein mickriger Schreibdiskurs in einem.

Die fürs erste letzte gute Nachricht kommt aus Paris, wo der Trompeter Graham Haynes in den letzten Jahren so was wie einen afrikanisch-europäisch- amerikanischen M-Base-Ableger betrieb, der jetzt unter dem Titel „The Griot's Footsteps“ käuflich ist. Mit Sitar, Tamputa, Keyboards und Talking-Drum ab zur Jahrtausendwende und Dank, wem Dank gebührt. Haynes Liste reicht von Alfred Hitchcock, David Murray, The Gnawas, Armin Baraka bis zu Wynton Marsalis und Henry Threadgill, womit sich also ein Kreis schließt, der selten so offen war wie heute: „Free your mind and your ass will follow. Your soul might follow too!“ Christian Broecking

Henry Threadgill: „Carry The Day“ (Columbia/Sony 478 506-2)

James Carter: „The Real Quiet Storm“ (Atlantic 7567-82742-2)

Brötzmann/Hopkins/Ali: „Songlines“ (FMP CD 53)

Graham Haynes: „The Griot's Footsteps“ (Verve/Motor 523 262-2)