Faulenzer und Drückeberger

Normalität der Groteske: Eine neue Generation israelischer Schriftsteller reagiert auf den Umbruch  ■ Von Jörg Plath

Wir haben heute eine große Vielfalt in der Literatur. Die Prosa ist der Poesie oft sehr nah: Der Text steht im Vordergrund und nicht die Wirklichkeit, die er abbildet. Ich denke, das zeigt: Unsere Gesellschaft wird normal.“ – Verleger, Buchhändler, Autoren, Kritiker, man mag in Israel fragen, wen man will: Immer klingen die Antworten ähnlich wie bei Michael Handelssalts, dem Herausgeber der Rezensionsbeilage von Ha'aretz, einer angesehenen Tel Aviver Tageszeitung. Der Pluralismus an Erzählweisen und Themen, die Distanz der Literatur zu den Problemen der israelischen Wirklichkeit sei ungewohnt, aber eben das sei ein Hinweis auf Normalität. Das klingt paradox, ist es jedoch nicht.

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Israels nationaler gesellschaftlicher Konsens ist brüchig geworden, das zeigt – früher als andere Subsysteme – die Literatur seit Ende der achtziger Jahre. Die bisher von ihr reflektierten nationalen Anliegen treten zurück, die heilige Dreieinigkeit im zionistischen Bewußtsein – Vaterland, Armee, Landnahme – verliert ihre bindende Wirkung. Manche Säulenheiligen werden arg gefleddert. An Grellem, Abweichendem, an leicht oder schwer Verrücktem ist in Israels Literatur kein Mangel.

Oder hat Israels nationaler Konsens so sehr an Stabilität gewonnen, daß nun dank der nachlassenden Bedrohung durch die Nachbarstaaten andere, bisher vernachlässigte Themen behandelt werden können?

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Normalität hieß für die Zionisten, die Nationengründung nachzuholen und so den europäischen Staaten ähnlich werden. Ein eigener Staat sollte den Juden erlauben, das Stigma des Andersartigen abzuschütteln. An die Stelle der Fremddefinition in der Diaspora sollte die eigene treten, an die Stelle des Paria der Staatsbürger. Eine sehr deutsch klingende romantische Argumentation: Die Staatsgründung befreit von der Fremdherrschaft und führt zur Selbstfindung. Doch die Staatsgründung 1948 war untrennbar mit dem Trauma der nationalsozialistischen Judenvernichtung verknüpft. Von nun an konnte Israel nur noch normaler werden, und nichts schienen seine Bürger sehnlicher zu wünschen. Sie begrüßen die Normalität wie wir hierzulande das Neue. Ihnen verspricht das Neue Normalität. Oder doch jedenfalls Normalisierung. Das gilt auch für die Literatur, mag sie auch noch so ungewöhnlich sein.

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„Ich [...] spritzte mir selbst [...] ein Beruhigungsmittel, das aber keine Wirkung zeigte. Ich legte mich auf die Behandlungsliege, die ich bei mir zu Hause aufgestellt hatte, und schloß mich an eine Stromquelle an. Ich verpaßte mir ein paar Elektroschocks, um meinen Kopf in Ordnung zu bringen. Ich stellte den Strom zu hoch, und mein Herz begann zu flattern. Sofort massierte ich mir die Brust und setzte mir eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht, aber nichts half – ich starb einen klinischen Tod.“

Dank eines Kräutertrunks ihrer Mutter erwacht Doktor Dolly drei Stunden später wieder zu ihrem Comicleben. Die Heldin in Orly Castel-Blooms „Dolly City“ (im Herbst bei Rowohlt) ist als Ärztin Herrin über Leben und Tod, doch der Sinn dieser Macht kam ihr abhanden. Die Welt außerhalb ihrer Wohnung ist ein unwirklicher Stadtdschungel, und Dolly, die sich mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln selbst manipuliert, ist eine Monade, deren jüdisch-israelische Identität zersplittert ist. Gleich Phantasmagorien ziehen Dachau und die Überlebenden der Shoah, das zionistische Arbeitsethos, der Jom-Kippur-Krieg und die besetzten Gebiete vorüber. Der Dreißigjährigen wird die selbständige Existenz eines Findlings unerträglich, und so näht sie das Kind schließlich auf ihrem Rücken fest. Nur einverleiben oder zerstören sind Optionen dieser narzißtischen Heldin. „Das Groteske nimmt überhand“, so Gershon Shaked, Literaturprofessor an der Jerusalemer Hebrew University. „Eigentlich sollte die Gesellschaft durch den Friedensprozeß viel normaler sein.“

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Die „Neue Generation“ ist ein unscharfer Begriff. Die Autorinnen und Autoren, die ihr zugerechnet werden – Orly Castel-Bloom, Ytzak Laor, Yuval Shimouni, Etgar Kehret, Yudit Katzir u.a. –, bilden keine Gruppe, sie besitzen kein gemeinsames Programm. Sie pflegen provokativ den Tabubruch oder haben sich von den gesellschaftlichen Problemen zurückgezogen. Beides sind Spielarten der Subjektivierung, ein in Israel und der israelischen Literatur recht junges Phänomen.

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„Dichter sollen den Weg weisen“, weiß Amos Oz, „das ist jüdische Tradition. Von ihnen wird eine Art Führung erwartet.“ In den sechziger Jahren befreiten sich die Schriftsteller aus der Rolle des schreibenden Propheten. Anders als die Autoren der „Palmach“-Literatur (benannt nach der jüdischen Selbstverteidigungsorganisation vor der Staatsgründung) bezogen sie kritische Distanz zur israelischen Gesellschaft: Während in ihren Büchern Faulenzer, Verweigerer und Drückeberger die sozialistischen Helden ablösen, treten viele von ihnen öffentlich für den Frieden mit den Palästinensern ein. Von Amos Oz und Abraham B. Jehoschua wird gar erzählt, sie sprächen ihre Interviews täglich miteinander am Telefon ab. Die Schriftsteller nahmen den Emanzipationsprozeß der Gesellschaft vom Staat vorweg; und sie bereiteten das Ende der Großschriftsteller vor, die – wie Heinrich Böll oder Günter Grass in den sechziger, siebziger Jahren der Bundesrepublik – ihre moralische Stimme gegen den herrschenden Konsens erheben. Das ist im Vergleich mit europäischen Gesellschaften zweifellos eine „Normalisierung“. Doch seit endlich Verhandlungen mit der PLO geführt werden, wirken die Intellektuellen ein wenig orientierungslos. Nur der unermüdliche Jehoschua fordert schon einen neuen „Bund“ mit den politisch engagierten Nationalreligiösen, mit der Rechten, um eine neue israelische Identität im „post- peace“, nach dem Friedensschluß, zu begründen. Die religiöse Metaphorik des „Bundes“, den einst Gott mit dem Volk Israel schloß, zeigt, welche Gesteinsmassen in der israelischen Identität in Bewegung geraten sind und auseinanderzubrechen drohen.

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Zwei Tage in der Woche melkt Seev Uditz die Kühe seines Kibbuz. Die übrige Zeit ist er Lektor von Hakibbuz Hameuchad, einem Verlag, der der Kibbuzbewegung gehört. Doch Hakibbuz Hameuchad ist kein Verlag für Landwirte. Abraham B. Jehoschua, Yaakov Shabtai, Yoram Kaniuk, Ahron Megged, Ahron Appelfeld und Yudit Hendel erscheinen bei Hakibbuz Hameuchad. Sie haben das literarische Ansehen Israels in den sechziger und siebziger Jahren mitbegründet – damals waren sie die „junge Garde“, heute gehören sie zur „älteren Generation“.

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Für die Radikalisierung der Kritik durch die Neue Generation steht Ytzhak Laor: sprachgewaltig, redelustig und wohl auch skandalliebend, geboren 1948. Der erste, voluminöse Roman des Lyrikers, „Das Volk, ein Königsmahl“, schildert mit ätzendem Spott die Armee als eine Versammlung von Debilen, Schwächlingen und Aussätzigen. Eine Provokation, nicht nur in Israel: „Der Krieg rückte näher. Jeden Tag ging der Kommandant an den [Gefängnis-]Zellen vorbei [...] und fragte, wer bereit sei, sein Leben fürs Vaterland zu opfern. Keiner der Soldaten war dazu bereit. Nicht, weil keiner von ihnen bereit war, sein Leben fürs Vaterland zu opfern, sondern weil jeder wußte, daß sich hinter dieser Frage eine Antwort folgender Art versteckte: ,Okay, dann nimm inzwischen einen Besen und feg den Hof‘, oder: ,Schön, dann schnapp dir inzwischen einen Rechen.‘“

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„Die Schriftsteller der Neuen Generation“ – so Chaim Pessah – „sind in eine fertige Welt hineingeboren worden – in eine Sprache, die schon existierte, und in einen Staat, in dem sie zur Schule gingen. Sie lebten ein normales Leben wie ein junger Deutscher oder Franzose es auch tut. Daher haben sie gar nicht das Bedürfnis, sich mit den großen Fragen zu beschäftigen.“

Die Neue Generation mißt den eigenen Staat an seinen Ansprüchen und seiner Realität, nicht mehr, wie noch ihre Eltern am Gegenbild der Diaspora und der Shoa. Dahinter stehen gemeinsame Erfahrungen: z.B. der Schock des Jom-Kippur-Krieges 1973, in dem Ägypten und Syrien überraschend Israel angriffen und die israelische Armee nur mit Mühe verlorenen Boden zurückerrang. Damals wurde der Mythos ihrer Unbesiegbarkeit zerstört.

Jener der gerechten eigenen Sache, der Moralität, ging 1982 verloren, als mit tatkräftiger Hilfe der israelischen Armee die Phalange- Milizen Massaker in palästinensischen Flüchtlingslagern des Südlibanon anrichteten. Die Likud-Regierung unter Menachem Begin rechtfertigte die Aktion mit der Suche nach Terroristen und geriet unter starken Druck. 300.000 Menschen, also ein knappes Zehntel der israelischen Bevölkerung, demonstrierten damals in Tel Aviv.

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„Wir werden endlich normal“, sagt der israelische Schriftsteller Daniel Lustig 1963 beim ersten Literarischen Colloquium in der Berliner Carmerstraße zu seinem deutschen Kollegen Klaus Stiller. „Wir haben jetzt auch Mörder in Israel.“

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„Die Öffentlichkeit ist ein wenig der Schriftsteller überdrüssig, die nach jedem politischen Ereignis und jeder Meinungsverschiedenheit auf dem Bildschirm erscheinen und moralisieren. Einige Autoren, wie z.B. Meir Shalev, sagen: Ich bin ein Schriftsteller, aber das verleiht mir oder meiner Stimme kein besonderes Gewicht. Wenn du wissen willst, wie die Leute fühlen oder woran ihr Herz hängt, dann frage einen Kardiologen.“

Diese Haltung, meint der Kritiker Michael Handelssalts, zeigt bei Yoel Hoffmann oder Orly Castel- Bloom poetologische Konsequenzen. Für sie ist der Roman ein Text, nicht (vorrangig) eine Abbildung der Wirklichkeit.

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Israel ist ein Land verwirrender Ungleichzeitigkeiten. Die gesamte europäische und amerikanische Fernsehwelt kann per Satellit empfangen werden, das dazugehörige Konsumangebot ist in den Läden verfügbar – und nebenan lockt der orientalische Basar.

Kein Wunder, daß man in Israel ein eigenes Verständnis von der Postmoderne hat. Am eigenen Leib hat sie der Cheflektor des Jerusalemer Verlages Keter, Chaim Pessah, erlebt, als er sich im Golfkrieg mit Gasmaske im Keller seines Hauses in Tel Aviv verbarrikadierte: „Wir haben jedesmal sofort das Fernsehen angemacht, um zu sehen, was draußen passiert. Einmal sah ich in einem CNN-Bericht eine Scud-Rakete gleich neben meinem Haus einschlagen. Ich sah sie nur auf dem Bildschirm, ich hörte nicht einmal den Einschlag. Ich erfuhr also durch einen Fernsehsender, der Tausende von Meilen entfernt stand, was in der unmittelbaren Nachbarschaft passierte! Manchmal ist die Wirklichkeit auf dem Bildschirm wirklicher als die richtige Wirklichkeit.“