■ Berlins Sozialsenatorin lehnt Sozialhifekürzungen ab: Falsche Signale für die Bürger
taz: Frau Stahmer, können Sie die Vorschläge Minister Seehofers zur „Sozialhilfereform“ unterschreiben?
Ingrid Stahmer: Nein, ich kann sie schon deshalb nicht unterschreiben, weil ich das Sozialhilfegesetz kenne. Daß jemand keinen Anspruch auf Sozialhilfe hat, der seine eigene Arbeitskraft nicht einsetzt, steht ja schon jetzt im Gesetz. Und bereits jetzt gibt es Möglichkeiten, jemandem der zeigt, daß er nicht arbeiten will, die Sozialhilfe zu kürzen. Von daher verstehe ich überhaupt nicht, warum der Bundesminister hier solche großen Ausrufezeichen setzt.
Das riecht nach Populismus?
Ja, da wollen offenbar einige Leute die Lufthoheit über den Stammtischen für sich erobern. Es mag solche Fälle geben, aber ich kenne keinen Sozialhilfeempfänger, der – auch wenn er damit nur knapp mehr Geld hätte als mit der Sozialhilfe – nicht lieber selbständig sein Geld verdient, anstatt alle 14 Tage aufs Sozialamt zu gehen. Sozialhilfeempfänger brauchen keine Strafe, sondern wirkliche Hilfe, damit sie wieder arbeiten können. Sie brauchen das Angebot von Arbeitsplätzen und Einstiegshilfen in die Arbeit. Solche Hilfen nehmen Sozialhilfeempfänger auch mit großem Interesse an. Wir geben in Berlin allein über 100 Millionen Mark aus, um solche Arbeitsverträge und Einstieghilfen zu geben. Ich weiß nicht, warum Herr Seehofer das nun gesetzlich regeln will. Wenn allerdings die Androhung von Leistungskürzungen bei einer Arbeitsverweigerung mit dem Anspruch auf einen Arbeitsplatz für jeden Sozialhilfeempfänger verbunden wäre, würde ich mich freuen. Um solche Arbeitsangebote auch wirklich machen zu können, zu denen Herr Seehofer die Hilfeempfänger jetzt verpflichten will, bräuchten die Kommunen allerdings einen Batzen Geld. Das spart nicht, sondern wird eine teure Angelegenheit.
Wo stimmen Sie Herrn Seehofer zu?
Es gibt Teile, die sehen interessant aus, beispielsweise da, wo Seehofer Arbeitseinkommen erst ab einer höheren Grenze auf die Sozialhilfe anrechnen will. Ich denke aber auch da, daß wir aufpassen müssen, mit den Freibeträgen und Zuschüssen nicht zu hoch zu gehen. Sonst könnte das Arbeitgeber veranlassen zu sagen: Niedrige Löhne schaden nicht, das Sozialamt zahlt ja immer was dazu. Das würde unser gesamtes Lohngefüge beeinflussen und noch häufiger zu Arbeitslöhnen führen, von denen eine Familie nicht mehr leben kann.
Welchen Teil der Seehofer- Pläne würden Sie keinesfalls unterschreiben?
Den Vorschlag eines Lohnabstandsgebots, das der Bundesminister wieder aufwärmt – zu allem Überfluß auch noch in einer nicht qualifizierten Weise. Der Abstand zwischen niedrigen Löhnen und Sozialhilfe ist bei Alleinstehenden schon jetzt immer gewährt. In allen Bereichen. Das ist mehrfach, auch vom Bundesfamilienministerium, untersucht und immer wieder bestätigt worden, daß es große Abstände zwischen Sozialhilfe und Löhnen gibt.
Da wird Ihnen Herr Seehofer dann die vierköpfigen Familie in Leipzig präsentieren, die sich mit Sozialhilfe besser steht als mit einem Arbeitsverdienst.
Das kann in einigen Fällen tatsächlich so sein, weil es Löhne bei uns gibt, die nicht auf die Familiengröße abgestellt sind und unsere Familienlastenausgleichszahlungen das nicht auffangen. Das Wohngeld reicht nicht aus, das Kindergeld reicht nicht aus. Ein generelles Lohnabstandsgebot könnte man aber erst dann gesetzlich festschreiben, wenn man zuvor wirklich genug für die Familien getan hat. So wie die Lage jetzt ist, geht eine solche Regelung einfach nicht. Das ist so, als wenn der Landwirtschaftsminister einer Bauernfamilie das Schwein wegnimmt, ihr dafür zwei Koteletts zurückgibt, und das auch noch als Wohltat verkauft. Wenn man, wie Seehofer, die Sozialhilfe 15 Prozent unterhalb der niedrigen Lohngruppen einfach kappt, werden noch mehr Familien mit mehreren Kindern in die Armut und Obdachlosigkeit gedrängt.
Was ich noch sehr problematisch finde, ist die von Herrn Seehofer postulierte jährliche Anpassung der Sozialhilferegelsätze nur nach den entsprechenden Lohnanhebungen. Das widerspricht den Grundsätzen der Sozialhilfe. Die Lohnanhebungen gehören in das System der Marktorientierung, das ist eine Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Sozialhilfe jedoch muß sich nach dem Bedarf richten, den ein Mensch oder eine Familie hat. Wenn man die Sozialhilfe an der Entwicklung der Löhne und nicht an den tatsächlichen Kosten orientiert, werden wir kein bedarfsdeckendes System mehr haben. Der große Gefahrenpunkt ist, daß Familien mit jeder Teuerung unter das Existenzminimum rutschen.
Neben einer Änderung des Sozialhilfegesetzes schlägt Seehofer ein „Ausländerleistungsgesetz“ vor. Sozialhilfekürzungen und Sachleistungen sollen nicht nur für Asylbewerber, sondern für Bürgerkriegsflüchtlinge und geduldete Ausländer gelten. Als Sozialsenatorin einer Stadt, in der rund 40.000 Bürgerkriegsflüchtlinge leben, müßte ein solcher Vorschlag Sie doch freuen.
Der kann mich nicht freuen. Bisher galt diese Regelung nur für Asylbewerber, die nicht länger als zwölf Monate in der Bundesrepublik leben. Sie beruhte auf der Überlegung, daß vielleicht nicht mehr so viele Leute kommen, wenn man die Sozialhilfe kürzt und als Sachleistung zahlt. Ob das so stimmt, ist fraglich. Aber für Bürgerkriegsflüchtlinge trifft es auf keinen Fall zu. Bürgerkriegsflüchtlinge kommen nicht hierher, weil es Sozialhilfe gibt, sondern weil in ihrer Heimat Krieg herrscht. In solchen Fällen von Abschreckung zu reden, setzt falsche Signale, sowohl gegenüber den Flüchtlingen, als auch gegenüber der deutschen Bevölkerung.
Die Idee, man könne damit Geld sparen, ist außerdem völlig verkehrt. Mein Vorgänger Ulf Fink hat ja schon in den achtziger Jahren versucht, das Sachleistungsprinzip für Asylbewerber durchzusetzen und dabei festgestellt, daß es wesentlich teurer wird, Sachleistungen auszugeben, als Bargeld auszuzahlen.
Seehofer behauptet, er spart damit 1,3 Milliarden Mark.
Diese Rechnung zweifle ich an.
Was passiert, wenn Seehofers „Ausländerleistungsgesetz“ in den Bundesrat kommt. Dort haben die SPD-regierten Bundesländer eine Mehrheit. Wären Sie sich unter dem finanziellen Druck der Länder und Kommunen wirklich sicher, daß die SPD ein solches Gesetz ablehnt?
Der finanzielle Druck ist wirklich existenziell. Deshalb kann man zur Zeit kaum etwas garantieren. Aber eine Zustimmung zu einem solchen Gesetz ist für mich unvorstellbar. Interview: Vera Gaserow
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