Bundeswehr bleibt bürokratisch stur

■ Bundeswehr besteht auf Musterung eines jüdischen Berliners, obwohl er als Nachkomme von Nazi- Opfern keinen Wehrdienst leisten muß / Verweigerung der Musterung aus prinzipiellen Gründen

Für Gideon B. ist es klar: „50 Jahre nach Kriegsende will sich das Kreiswehrersatzamt wohl nicht mehr mit den Opfern des Faschismus auseinandersetzen.“ Anderthalb Jahre kämpfte der 24jährige Berliner jüdischen Glaubens dafür, von der Einberufungsbehörde nicht gemustert zu werden.

Nach einem Erlaß des Bundesministeriums der Verteidigung werden Wehrpflichtige, deren nächste Angehörige (Großeltern, Eltern, ältere Geschwister), nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren, „bis auf weiteres vom Wehrdienst zurückgestellt“. Zu einer Musterung werden sie trotzdem gezwungen. Die Begründung dafür klingt absurd: Laut Kreiswehrersatzamt kann vom Wehrdienst nur zurückgestellt werden, wenn beim Mustern festgestellt wurde, ob der Betreffende überhaupt wehrdienstfähig ist. Gilt er als untauglich, entfällt auch das Zurückstellungsverfahren und er muß überhaupt keinen Wehrdienst leisten.

Als Gideon B. im November 93 seine erste Ladung zur Musterung bekommt, entscheidet er sich, nicht beim Kreiswehrersatzamt zu erscheinen. Eine medizinische Untersuchung und die Einstufung nach Wehrtauglichkeitskategorien, so schreibt der 24jährige dem Kreiswehrersatzamt als Begründung, sei „eine schwere psychische Belastung“, die er „persönlich als Zumutung vor dem Hintergrund der Erfassungs- und Aussonderungspraxis deutscher Zivil- und Militärbehörden in der Zeit des Nationalsozialismus“ enpfinde. Doch darauf reagiert das Kreiswehrersatzamt nicht. In einem lapidaren Schreiben wird er nur darauf hingewiesen, daß er zwar keinen Wehrdienst leisten, sich aber mustern lassen müsse.

Ohne auf Gideon B.s erneute Nachfragen einzugehen, informiert das Kreiswehrersatzamt wenig später den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jerzy Kanal. Er soll ein Vermittlungsgespräch mit Gideon B. und seinem ein Jahr älteren Bruder Micha führen, dem ebenfalls die Musterung droht. Das Gespräch findet statt, doch die beiden Brüder lassen sich nicht umstimmen. Selbst das Angebot, seine persönlichen Beweggründe vor einem Musterungsausschuß darzustellen, lehnt die Behörde ab. Zusätzlich bekommt die Einberufungsbehörde noch einen Rüffel vom Bundesbeauftragten für Datenschutz: die Übermittlung personenbezogener Daten (in diesem Fall der komplette Briefwechsel) an Jerzy Kanal ohne Einverständnis der Betroffenen, sei „unzulässig“, so der Bundesbeauftragte.

Im März 94 erhält der 24jährige erneut Post vom Kreiswehrersatzamt. In knappen Worten wird ihm mitgeteilt, er werde „polizeilich vorgeführt“, komme er der Musterung nicht nach. Ein bedrückendes Gefühl für Gideon B., „denn ich befürchtete nun ständig, morgens aus dem Bett geklingelt und abgeholt zu werden. Das ist eine Situation, die ein deutscher Jude nicht gerade emotionslos aufnimmt.“

Doch ein halbes Jahr läßt ihn die Behörde in Oberschöneweide im Ungewissen, bis im November 94, diesmal vom Sachgebietsleiter für Musterungen, ein Brief kommt. Der droht ihm „persönliche Nachteile“ an, wenn er sich nicht mustern lasse. Im übrigen solle er „eindeutige Nachweise über eine nationalsozialistische Verfolgung der Angehörigen“ vorlegen. Obwohl Gideon B. nicht verstehen kann, daß das Kreiswehrersatzamt in keiner Weise inhaltlich auf seine Musterungsvorbehalte eingeht, beschließt er dennoch, nachdem ihm eine erneute polizeiliche Vorführung angedroht wird, sich mustern zu lassen. „Ich bin hingegangen, weil ich mich nicht ins Unrecht setzen lassen wollte“, sagt er. „Moralisch bin ich sowieso im Recht.“ Sein Bruder dagegen hatte Glück: Nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag schied er aus der Musterungsprozedur aus.

Renate Rennebach, die SPD- Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Zehlendorf-Steglitz, die zwischen Gideon B. und dem Kreiswehrersatzamt vermittelte, strebt eine Gesetzesinitiative für die Freistellung der Betroffenen an. Sie orientiert sich dabei an der Regelung für dritte Söhne, die seit kurzem gesetzlich vom Wehrdienst freigestellt werden. Ihnen bleibt die Musterung erspart. Auch der Leiter des Kreiswehrersatzamtes, Bernhard Steimle, will, daß endlich „Klarheit“ herrscht. In Süddeutschland, wo er früher tätig war, hätte es nie „solche Probleme“ gegeben. Persönlich hat er für die Ausnahmeregelung nur wenig Verständnis. Für ihn ist es fragwürdig, ob auch Enkel oder sogar Urenkel „eine Sonderbehandlung erfahren sollen“. Denn „irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, wo Deutsche gleichberechtigt behandelt werden müssen, sowohl in ihren Rechten als auch in ihren Pflichten, egal, welchen Glaubens sie sind.“ Julia Naumann