Erinnerung an den Zug, der in die Freiheit fuhr

Am 15.4.1945 wurde das KZ Bergen-Belsen befreit. Drei Monate zuvor durften 301 jüdische Insassen in einer geheimen Austauschaktion zwischen Alliierten und Nazis das Lager verlassen, darunter die Familie des Autors  ■ Von Werner Hasenberg

An einem Sonntag, dem 21. Januar 1945, verließ ein Zug mit 301 Passagieren den Bahnhof von Bergen. Es war ein Zug mit beheizten Personenwagen, jeder gekennzeichnet mit dem Symbol des Internationalen Roten Kreuzes. Zu den Passagieren zählten meine Eltern, meine Schwester und ich; wir verließen das Konzentrationslager Bergen-Belsen in Richtung Schweiz.

Bemerkenswerter noch ist die Geschichte, wie wir unter die Passagiere dieses Zuges gerieten, der uns in die Schweiz bringen sollte; dort sollten wir gegen deutsche Staatsbürger ausgetauscht werden, die als feindliche Ausländer interniert worden waren, nachdem die Länder, in denen sie lebten, sich den Allierten angeschlossen hatten.

Für meine Familie wie für die meisten der Passagiere im Zug hatten die Deutschen Pässe oder Papiere in Händen, die uns als Bürger der Vereinigten Staaten oder Ecuadors, El Salvadors, Haitis, von Honduras, Paraguay oder Uruguay auswiesen. In der Geschichte von Bergen-Belsen wurde diese „Transaktion“ als der „Amerika-Austausch“ bekannt.

Am 20. Juni 1943 wurde meine Familie in Viehwagen von Amsterdam nach Westerbork deportiert, dem Konzentrationslager in Holland, über das fast alle Juden der Niederlande deportiert wurden (meistens in die Vernichtungslager in Polen). Im September 1943 wurden wir informiert, man habe für uns ecuadorianische Papiere erhalten. Diese Papiere sollten einstweilen unsere Deportation nach Polen „blockieren“. Hätten wir nicht außerdem auf einer „Palästina-Liste“ gestanden, die uns vorübergehend „blockiert“ hatte, hätte man uns wahrscheinlich schon vor der Ankunft der ecuadorianischen Papiere aus Schweden deportiert und umgebracht.

Wie waren wir an diese Papiere gekommen? Einige Zeit vor unserer Deportation nach Westerbork begegnete mein Vater einem alten Freund, der ihm erzählte, er und seine Frau hätten mit Hilfe eines gemeinsamen Bekannten in Stockholm ecuadorianische Papiere erhalten. Und so beschloß mein Vater, an den Mann in Stockholm einen Brief zu schreiben, Paßbilder für uns vier mitzuschicken und ihn geschickt an unsere Daten und Geburtsorte zu „erinnern“. Mehr war von unserer Seite aus nicht möglich, und es war auch nicht ohne Risiko, denn alle internationale Post wurde von der Nazi-Zensur überprüft. Auf jeden Fall erwies es sich als ein lohnendes Risiko.

Ich kann mich nicht erinnern, daß wir die ecuadorianischen Papiere je zu Gesicht bekommen hätten. Es ist auch ziemlich klar, daß die Nazis wußten, daß die Papiere im Grunde falsch waren. Schon 1943 hatte die Rechtsabteilung des deutschen Auswärtigen Amtes einen „Austauschplan“ ausgearbeitet, der dann für einige Zeit zum Gegenstand bürokratischen Gezänks zwischen Auswärtigem Amt und der Sicherheit geworden war. Im März 1943 kam es zu Vereinbarungen über den Austausch bestimmter Juden gegen deutsche Staatsbürger, die von den Alliierten interniert waren. Dadurch wiederum konnten die Konsuln (häufig „Honorarkonsuln“) der mittel- und südamerikanischen Länder in Schweden und der Schweiz Pässe an Personen ausgeben, über die sie Informationen besaßen.

Wie kam meine Familie unter die 301 Personen, die Bergen-Belsen für den Austausch verließen? Selbst nach fünfzig Jahren ist mir das nicht klar. Sicherlich hatten wir sehr viel Glück, im wesentlichen regierte der Zufall. Nicht alle Menschen in unserem Lager, die „amerikanische Papiere“ besaßen, wurden für den Austausch ausgewählt.

Wie sehen einige meiner flüchtigen Erinnerungen an die Abfahrt von Bergen-Belsen aus? Wir passierten im Trab eine Entlausungsstation mit einer Dusche und sehr heißem Dampf: Der heiße Dampf tötete die Läuse ab, erweckte aber zugleich die nächste Generation zum Leben. Nach der Dusche sprach mich ein alter Mann an, den ich nur an seinem Handtuch erkannte. Es war mein Vater, der damals 52 Jahre alt war. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, wie wir aus dem Lager zum Zug kamen. Aber irgendwie waren wir dann dort.

In dem Roten-Kreuz-Zug hatten wir vier ein eigenes Abteil, so daß meine Eltern, die beide sehr krank waren, sich ein bißchen hinlegen konnten. An Einzelheiten über das Essen kann ich mich nicht erinnern, aber wahrscheinlich war es besser als alles, was wir lange Zeit zuvor bekommen hatten. Ein deutscher Soldat, der SS-Mann gewesen sein mag oder auch nicht, kam vorbei und fragte, ob wir deutsches Geld hätten, das wir eintauschen wollten. Wir trauten der Angelegenheit nicht und tauschten deshalb nur die Hälfte unseres deutschen Geldes gegen Dollars (oder waren es Schweizer Franken?) zu einem sehr günstigen Kurs. Und gelegentlich sprachen wir mit einigen unserer Mitpassagiere, die wir aus Bergen-Belsen oder Westerbork oder aus der Zeit vor unserer Deportation kannten. Aber alle waren wirklich völlig erschöpft.

Als wir am dritten Tag aufwachten, war mein Vater gestorben — an Unterernährung und Erschöpfung. Seine Überreste wurden im nächsten Bahnhof aus dem Zug geholt, in Biberach an der Riß. Meine Schwester und ich stiegen kurz aus, um von ihm Abschied zu nehmen, und stiegen dann wieder in den Zug, der weiter in die Schweiz fuhr.

Kurz nachdem der Zug Biberach verlassen hatte, wurden viele Passagiere aus dem Zug geholt und dann in die zivilen Internierungslager von Biberach und Ravensburg in Süddeutschland gebracht. Einige Leute (vielleicht genauso viele) aus diesen Lagern bestiegen den Zug und nahmen am Austausch teil. (Auch meine Mutter, meine Schwester und ich hatten im Zug bleiben dürfen.)

Nach Angaben aus einigen Akten wurden am 25. Januar 1945 136 Menschen in der Schweiz ausgetauscht; vielleicht bezieht sich diese Zahl nur auf diejenigen, die Bergen-Belsen mit uns verlassen hatten. Vom Grenzübergang in die Schweiz am 25. Januar 1945 ist mir nur in Erinnerung, daß er sehr schnell und einfach ablief.

Nach den Austauschbedingungen durften die meisten von uns nicht in der Schweiz bleiben. Meine Mutter und ich und ein paar andere wurden aus Gesundheitsgründen zurückgehalten (zuerst in Krankenhäusern und dann in Internierungslagern); andere starben bald nach ihrer Ankunft in der Schweiz.

Alle Reisefähigen fuhren mit dem Zug weiter nach Marseille, wo alle US-Bürger ein großes Passagierschiff bestiegen (die „SS Gripsholm“), die zum US-Hospitalschiff und Truppentransporter umgebaut worden war, um amerikanische Soldaten aus Europa zurückzubringen. Die übrigen (darunter auch meine Schwester) fuhren auf einem kleineren Schiff nach Algerien, wo sie zunächst in ein UNRRA-Lager in Philippeville kamen; später wurden sie in privaten Unterkünften an anderen Orten in Algerien untergebracht, bis sie nach Holland, Palästina oder in die Vereinigten Staaten weiterfahren konnten.

In dieser Darstellung habe ich mich auf ein ziemlich einzigartiges und kaum bekanntes Ereignis in der Geschichte des Holocaust konzentriert, an dem ich beteiligt war, als „Privilegierter“ sozusagen.

Aber ich kann Bergen-Belsen, wo ich das schlimmste Jahr meines Lebens verbrachte, nicht einfach unerwähnt lassen. Anders als Auschwitz, Maidanek, Sobibor und andere Orte war Bergen-Belsen kein Vernichtungslager, aber es war trotzdem ein schrecklicher Ort. Wir wurden von der SS und den Kapos sehr schlecht behandelt. Wir litten unter Hunger, Läusen, Dysenterie und anderen Epidemien.

So schlimm Bergen-Belsen zur Zeit unserer Abfahrt im Januar 1945 war, es wurde noch unendlich viel schlimmer bis zur Befreiung durch britische Truppen am 15. April 1945 und auch noch danach. Ohne den Amerika-Austauch — eine kaum bekannte Zugreise, die wir vor fünfzig Jahren unternahmen — hätten die meisten Passagiere dieses Zuges wohl kaum überlebt. Aus dem Amerikanischen

von Meinhard Büning