Von bösen Geistern in Haiti

Zwischen Voodoo und Demokratie: Ein Tag im Leben eines Richters  ■ Aus Grand GoÛve Andrea Böhm

Der Richter hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Die Krawatte hängt lose um den dünnen Hals, die Augen sind müde. Schuhe, Aktentasche und das blaue Jackett sind eingestaubt vom Sand, den der Wind in Grand GoÛve nicht nur durch Palmen und Mangobäume, sondern auch durch die Ritzen des Gerichtsgebäudes treibt. Der Kugelschreiber, mit dem er letzte Anmerkungen zum Verhandlungstag notiert, muß immer wieder von Schmutz und Staub befreit werden, was mit aller Sorgfalt geschieht, denn Schreibwaren sind Mangelware. Wie alles, was ein Richter sonst noch brauchen könnte.

Jean Josias Milord, 30 Jahre alt, Aristide-Anhänger und als solcher drei Jahre lang im Untergrund gewesen, ist seit wenigen Wochen mit Zustimmung der lokalen Bevölkerung und des Justizministeriums Friedensrichter in dem 5.000-Seelen-Städtchen im Südwesten Haitis. Er soll in Zukunft Konflikte zwischen Nachbarn schlichten, kleinere Vergehen ahnden, den Bau eines neuen Gerichtsgebäudes in Angriff nehmen, Menschenrechtsverletzungen aus den Jahren der Militärdiktatur dokumentieren sowie Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in ein System einführen, das bislang auf Korruption und politischer Unterdrückung basierte. Für diese nicht ganz kleine Aufgabe bringt er viel Idealismus und ein abgeschlossenes Jurastudium an der Universität von Port- au-Prince mit. Was er nicht hat, sind Telefon, Gesetzestexte und Aktenordner.

Mord gehört eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der nächsthöheren Instanz, des „Tribunal de première instance“. Doch weil deren Ämter noch verwaist oder mit korrupten Richtern aus den alten Zeiten besetzt sind, muß Milord seit Tagen selbst gegen vier Männer ermitteln, die vor einer Woche eine geisteskranke Frau zu Tode gesteinigt haben. „Eine sehr schwierige Sache“, sagt er betont würdevoll – ohne den leisesten Zweifel, daß er der Herausforderung gewachsen ist. Abgesehen vom Zustand seines Kugelschreibers hat der junge Richter in diesem Fall mit einem weiteren, spezifisch haitianischen Problem zu kämpfen: Die Mörder sind der festen Überzeugung, daß es sich bei ihrem Opfer um einen Werwolf gehandelt hat, und betrachten ihre Tat als einen Dienst an der Gesellschaft.

Milord zeigte sich von solchen Voodoo-Vorstellungen unbeeindruckt. Vor vier Tagen hat er Haftbefehle ausgestellt und die Täter festnehmen lassen, was wiederum eine höchst prekäre Angelegenheit war. Denn als Polizei standen ihm eine Patrouille der „US Special Forces“ aus dem benachbarten Petit GoÛve sowie drei Mitglieder der haitianischen Interims-Polizei zur Verfügung. Letztere gehörten zu jener Armee, die vor über drei Jahren den demokratisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide ins Exil und Jean Josias Milord in den Untergrund getrieben hatten.

In Grand GoÛve sieht man auf den ersten Blick kaum mehr Spuren des Terrorregimes von Armee und Polizei, das nach dem Sturz Aristides bis zum Einmarsch der US-Truppen am 19. September 1994 herrschte. Über die Grundmauern der Häuser, die Soldatentrupps in der Nacht des Putsches niedergebrannt hatten, ist Gras gewachsen. Die Toten sind begraben, die Flüchtlinge aus dem Exil oder dem Untergrund zurückgekehrt. Am Eingang des Gerichts warten Leute, um sich für die Parlaments- und Kommunalwahlen am 4. Juni registrieren zu lassen. Auf dem Markplatz herrscht reges Gedränge, durchsetzt mit heftigen Debatten über die viel zu hohen Preise; über die versprochene Wirtschaftshilfe aus dem Ausland, von der noch nichts zu merken ist; über den Nachbarn, der gerade ein neues Haus aus Ziegeln und Zement baut. Wer sich dieser Tage in Grand GoÛve Zement leisten kann, ist entweder in Schmuggelgeschäfte verwickelt oder hat Verwandte in den USA, die Dollars schicken.

Doch die Schatten des Terrorregimes sind lebendig – in Gestalt des Leutnants Joseph Weber Milord und seiner Leute. Leutnant Milord, mit dem Richter nicht verwandt, war Kommandant der haitianischen Armee und Mitglied der rechtsradikalen Terrororganisation FRAPH in Grand GoÛve. Ist Richter Milord ein Symbol für den Aufbruch in eine neue Ära, so steht Leutnant Milord für die jahrzehntelange Repression der Duvalier-Diktaturen und für den Terror der dreijährigen Militärherrschaft, in der rund 4.000 Anhänger Aristides ermordet worden sind.

Seine Laufbahn war mit dem Einmarsch der US-Truppen und der Rückkehr Aristides keineswegs beendet. Joseph Weber Milord ist heute Angehöriger der Interims-Polizei, einer von jenen 3.000 Polizisten, die in Haiti für Recht und Ordnung sorgen sollen, bis regulär ausgebildete Absolventen einer neuen Polizeiakademie ihren Dienst antreten werden. Daß die Interims-Truppe fast ausschließlich aus ehemaligen Armeemitgliedern besteht, geht auf den politischen Druck der USA zurück. Eine aus Zivilisten rekrutierte Interims-Truppe war der Clinton-Administration nicht genehm. Soldaten, so argumentierten die Amerikaner, seien wenigstens an Hierarchien und den Umgang mit Waffen gewöhnt. Man unterzog die Kandidaten einem sechstägigen Schnellkurs und schickte sie – unter Aufsicht „Internationaler Polizeibeobachter“ der UNO und amerikanischer Truppen – wieder in den Dienst. Diese Praxis hat die Popularität der US-Truppen in ländlichen Regionen spürbar abnehmen lassen, wo sie aufgrund ihrer zahlenmäßig kleinen Präsenz sehr viel enger mit der verhaßten Interims-Polizei kooperieren als in der Hauptstadt Port-au-Prince.

Mangels Transportmöglichkeiten – die Polizeistation von Grand GoÛve besitzt nicht einmal ein Fahrrad – ist der Bewegungsradius des Leutnants und seiner Männer eingeschränkt. Doch ab und zu begegnet Richter Milord seinem ehemaligen Häscher im Gerichtsgebäude. Ein kühler Blick, dann geht man grußlos aneinander vorbei. „Der Mann gehört entlassen und vor Gericht gestellt“, sagt der Richter schneidend und deutet auf seine verstaubte Aktentasche, in der er Belastungsmaterial gegen den Leutnant verstaut hat, Zeugenaussagen wie die seines Freundes Joseph Desnoyer, eines jungen Aristide-Anhängers und Mitglieds der lokalen Basisgruppe „Kombit Komilfo“, die seit dem Sturz von „Baby Doc“ Duvalier in Grand GoÛve Alphabetisierungs- und Gesundheitskampagnen organisiert. Unter Aufsicht des Leutnants wurden Desnoyer im Oktober 1991 in tagelanger Folter Rücken und Fußsohlen aufgeschlagen, die Rippen wurden gebrochen, sein Trommelfell wurde zerrisen.

Ein Besuch in der Polizeistation von Grand GoÛve ergibt, daß Leutnant Milord nicht zu sprechen ist. Doch Interimspolizist Laurent ist ganz versessen darauf, über seine eigene Reformierung Zeugnis abzulegen. Die letzten zehn Jahre hat er in der haitianischen Armee und bei der Polizei verbracht, da beide Institutionen bislang nicht getrennt waren. Nein, geschlagen oder mißhandelt habe er noch keinen Menschen in seinem Leben. „Und wenn, dann hätten die Leute ja sofort eine Beschwerde gegen mich eingereicht und ich wäre bestraft worden.“ Diese faustdicke Lüge, unterstrichen durch einen treuherzigen Augenaufschlag, entlarvt er unfreiwillig gleich selbst. „Seit dem Reformkurs der Amerikaner“, berichtet er stolz, „weiß ich jetzt, wie man Gefangene korrekt behandelt.“

Dann reißt er bereitwilligst die schwere Holztür zur Zelle auf. Zwei dünne alte Männer springen erschrocken von einer Strohmatte hoch. Der eine sitzt in Untersuchungshaft, weil er drei Ziegen seines Nachbarn die Kehle durchgeschnitten hat, nachdem sie mehrfach über seinen Garten hergefallen waren. Der andere wartet auf seinen Prozeß wegen Mordes an jener alten Frau, die er immer noch für einen Werwolf hält. „Es war völlig eindeutig. Als ich meine Taschenlampe auf sie richtete, ging das Licht aus“, sagt er mit einem Ton in der Stimme, als könne es sich bei seiner Inhaftierung nur um ein Mißverständnis handeln.

Interims-Polizist Laurent enthält sich jeder Wertung, möchte aber festgehalten wissen, daß er die Gefangenen vorzüglich behandelt, was beide mit einem verdächtig eifrigen Kopfnicken zu bestätigen versuchen. „Ich bringe ihnen sogar zu essen, was überhaupt nicht meine Aufgabe ist.“ Mit diesen Worten fällt die Tür wieder ins Schloß. Interims-Polizist Laurent widmet sich wieder einer Hochglanzbroschüre der Zeugen Jehovas. „Wissen Sie“, sagt er zum Abschied, „ich möchte mich auch seelisch reformieren.“

Auch in Jean Josias Milord geht just zu dieser Zeit eine Veränderung vor. Aus dem Friedensrichter wird für die nächsten Stunden ein Aushilfslehrer am „Lycée Nationale de Grand GoÛve“, wo an diesem Samstag nachmittag die Testbögen in Geschichte und Sozialkunde ausgeteilt worden sind.

Die 37 SchülerInnen der siebten Klasse sitzen mucksmäuschenstill, die Köpfe über ihre altmodischen Sitzpulte gebeugt, auf denen der Abschlußtest liegt. Ab und zu ein Seufzen, hin und wieder bricht ein Bleistift ab – bis einer der Aufpasser einen Spickzettel entdeckt. „Wirf das sofort weg!“ gellt seine Stimme durch den Raum. Der Ertappte fügt sich mit einer Mischung aus Unmut und Resignation. Geprüft werden haitianische Geschichte und der Zweite Weltkrieg – im Multiple-choice-Verfahren. Frage 7: „War Adolf Hitler a) Engländer, b) Amerikaner, c) Deutscher oder d) Österreicher?“ Tückisch – nicht nur für Siebtkläßler in Haiti. Am Ende noch eine Exkursion in die Sitten- und Sozialkunde. Frage 14: „Wer mehrere Frauen heiratet, ist a) bisexuell, b) polygam oder c) monogam.“ Frage 15: „Ehebruch ist in Haiti nicht strafbar. Richtig oder falsch?“

Ihr „Lycée Nationale“ ist der ganze Stolz der Bürger von Grand GoÛve. Drei Steinbaracken sind in sechs Klassen unterteilt, in denen sich die 326 SchülerInnen zusammendrängen. Bis vor kurzem waren hier sechs Lehrer angestellt, die zwar bezahlt wurden, aber nur sporadisch zum Unterricht erschienen. Alle hatten ihre Posten nach dem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Jean Bertrand Aristide erhalten – als Dank für ihre Loyalität gegenüber den Duvalieristen.

Als sie am 7. November zu Beginn des neuen Schuljahres die Klassenräume betreten wollten, fanden sie nicht nur die SchülerInnen, sondern auch deren Eltern sowie Mitglieder der lokalen Basisorganisation „Kombit Komilfo“ vor. Nach längerer Debatte wurden die alten Lehrer abgewählt und aus den Kreisen der Eltern und Aktivisten neue bestimmt. Seitdem findet jeden Tag Unterricht statt. Bezahlt wird niemand. Der Staat ist faktisch pleite. Am „Lycée Nationale de Grand GoÛve“ gibt es keine Bücher, kaum Schreibhefte oder Stifte, ein Lineal und einen Zirkel. Und ein Stück Kreide. Damit hat jemand den Anbruch neuer Zeiten an der Wand des Lehrerzimmers verkündet: „Der größte Feind der Nation ist jener Beamte, der seine Arbeit zum Schaden des Landes vernachlässigt.“

Jean Josias Milord schnappt sich einen Stapel von Prüfungsbögen, verstaut sie in seiner Aktentasche und geht nach Hause. Feierabend. Zeit zum Korrigieren. Die korrekte Antwort auf Frage 15 lautet übrigens: „richtig“.