Wasser stürzte in den Tunnel

■ Berlin vor fünfzig Jahren: Noch kurz nach der Kapitulation wurde der S-Bahn-Tunnel gesprengt / In den einbrechenden Wassern des Landwehrkanals ertranken Schutzsuchende

Der Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel entstand während der dreißiger Jahre als Prestigeprojekt der Nazis. Er verschluckt die Wagen der S-Bahn kurz hinter dem Gesundbrunnen, führt sie unter der Spree, dem Landwehrkanal und der Berliner Innenstadt hindurch, um sie nach dem Anhalter Bahnhof wieder ins Tageslicht zu entlassen. Hier, am südlichen Tunnelende, am Tempelhofer Ufer, Ecke Trebbiner Straße, genau an der Stelle, wo der S-Bahn-Tunnel den Landwehrkanal kreuzt, über den eine Eisenbahnbrücke führte und darüber noch die Hochbahn saust, detonierte am Ende des Zweiten Weltkrieges im S-Bahn-Tunnel eine Sprengladung mit so gewaltiger Wucht, daß sie die über einen Meter dicke Stahlbetondecke aufriß und tragende Wände und Pfeiler einstürzen ließ. Das Wasser des Landwehrkanals überflutete in kürzester Zeit den 5,5 Kilometer langen Tunnel.

„Alles will vor dem Wasser fliehen. Die Menschen stürzen über Schwellen, zertreten Kinder und Schwerverwundete, aber das Wasser ist schneller. Wer unten zu liegen kommt, ist verloren. Dann ist Totenstille. Leichen schwimmen zwischen dem Anhalter Bahnhof und der Friedrichstraße“, beschreibt der Historiker Erich Kuby das Szenario. Zeitzeugen berichten von Leichengeruch, der sich bald über Berlin ausgebreitet haben soll. 1.000 bis 2.000 Tote will das Bestattungsamt Kreuzberg aus dem Tunnel gefischt haben. Neuere historische Forschungen verweisen solche Angaben jedoch in den Bereich der Spekulation. Die Phantasie der Zeitgenossen produzierte Horrorszenarien, die in der Realität so nicht stattgefunden haben.

Wahr ist, daß sich das Leben der Berliner während der letzten Kriegstage mehr unter als über der Erde abgespielt hat: In Kellern, Bunkern und Tunnels. Über ihren Köpfen verschoben sich die Fronten des Straßenkrieges, und immer mehr Zivilisten kamen aus ihren zerschossenen Häusern und richteten sich im Untergrund auf einen längeren Aufenthalt ein. Im Vergleich mit dem überfüllten Bunker am Anhalter Bahnhof, in dem die hygienischen Bedingungen katastrophal waren, erschien die benachbarte S-Bahn-Station als noch vergleichsweise luftig. Verwundete pflegte man in zu Krankenstationen umfunktionierten S-Bahn- Wagen. Gleichzeitig wurden die Tunnel militärisch genutzt. „Gefechtsstand Anhalter Bahnhof. Bahnsteige und Schalterräume gleichen einem Heerlager. In Nieschen und Winkeln drängen sich Frauen und Kinder. Andere sitzen auf Klappstühlen. Sie horchen auf den Lärm der Kämpfe. Die Einschläge erschüttern die Tunneldecke. Lazarettzüge der S-Bahn, die langsam weiterrollen“, erinnert sich ein Offizier. Zudem boten die Tunnel eine relativ sichere Art der Fortbewegung innerhalb Berlins. Soldaten wechselten unterirdisch ihren Standort. Mehrmals versuchten die im Bunker der Reichskanzlei eingekesselten Nazigrößen einen Ausbruch in Richtung Friedrichstraße.

Wahr ist auch, daß der S-Bahn- Tunnel mit der Absicht gesprengt wurde, diesen mit Wasser vollaufen zu lassen. Die Sprengladung explodierte am 2. Mai 1945, nach der Kapitulation Berlins. Es sei aus diesem Grunde unwahrscheinlich, so die neuere Forschung, daß sich zu diesem Zeitpunkt noch viele Zivilisten im Untergrund aufgehalten hätten. Man schätzt die Zahl der geborgenen Toten auf rund 200. Die Hintergründe der Tat liegen weitgehend im dunklen. Wer hatte nach der Kapitulation Interesse an der Zerstörung des Tunnels? Handelte die SS getreu ihrer Tradition der verbrannten Erde? Wollte die Rote Armee die letzten unterirdischen Widerstandsnester „ausspülen“? Vieles läßt sich heute nicht mehr beantworten.

Schon im Mai 1945 begannen die Wiederherstellungsarbeiten. Ein Jahr später ging der Tunnel teilweise wieder in Betrieb. Kerstin Schweizer

wird fortgesetzt