Tödliche Kränkung

■ Lebenslange Haft für Blutbad in türkischer Familie / Kultureller Konflikt wegen Verdachts des Mißbrauchs

Es könne sein, daß sich Orhan I. verpflichtet gefühlt habe, seine durch den Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs verletzte Ehre wiederherzustellen. Das räumte der Vorsitzende Richter Hansgeorg Bräutigam gestern bei der Urteilsverkündung in dem türkischen Familiendrama ein, bei dem im Mai letzten Jahres drei Menschen starben. Doch als Maßstab eines Beweggrundes sei die Rechtssprechung der Bundesrepublik zugrunde zu legen. Und derzufolge seien der „brutale und kaltblütige“ dreifache Mord und versuchte Totschlag aus „persönlicher Kränkung“ ein „niederer Beweggrund“. Der Angeklagte Orhan I. wurde gestern zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Richter sahen es als erwiesen an, daß der zutiefst gedemütigte 28jährige Kurde am 9. Mai vorigen Jahres mit Mordplänen die Schwiegereltern und den Ehemann seiner Nichte Eylem Y. in deren Wohnung in Kreuzberg aufsuchte und sie durch eine Handgranate und Pistolenschüsse umbrachte. Dadurch wollte er den wenige Wochen zuvor von Eylem Y. geäußerten Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs sühnen. Ein Vorwurf, der vom Gericht nicht bewiesen werden konnte. Eylem Y. hatte von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Entsprechend dem Plan, die Überlebenden der Explosion zu töten, habe der Angeklagte die Schwiegermutter der Nichte sofort danach in den Kopf geschossen, so Richter Bräutigam. Bei dem Angeklagten liege zwar eine depressive Persönlichkeitsstörung vor. Da diese aber aus psychiatrischer Sicht bei der Tat keine Auswirkung gehabt habe, sei Orhan I. für seine Taten, die er aus einem kulturell begründeten Konflikt heraus begangen habe, voll verantwortlich. Zwei von drei Schwägerinnen wurden nach der Explosion der Granate durch Schüsse verletzt. Eine von ihnen wird ihren Beruf als Krankenschwester wahrscheinlich nie wieder ausüben können. Die drei Schwägerinnen, so Bräutigam, hätten den Tod ihrer Eltern und ihres Bruders noch nicht überwunden und litten unter erheblichen psychischen Problemen.

Der Angeklagte hatte sowohl den Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs als auch die Tat bestritten. Die Verteidigung, die Freispruch forderte, will gegen das Urteil Revision einlegen. Barbara Bollwahn