Der Sturm auf Kjonigsbergskaja

Am 6. April vor fünfzig Jahren begann die Rote Armee ihren Großangriff auf Königsberg. Vier Tage später kapitulierte die zerstörte Stadt. Veteranen feiern erstmals dieses Ereignis.  ■ Aus Kaliningrad Anita Kugler

Im Flugzeug nach Kaliningrad sitzt eine weißhaarige Frau aus Hamburg. Als die Maschine landet, bricht sie in Tränen aus. Es ist der erste Besuch in ihrer alten Heimat seit ihrer Flucht über das Eis zum Frischen Haff im Februar 1945. Tage später weint sie wieder. Denn für ihren Besuch hat sie sich die denkbar ungünstigste Zeit ausgesucht – die Stadt feiert den „Sturm auf Kjonigsbergskaja“ vor fünfzig Jahren. Mit großem militärischem Brimborium, wenn auch ohne militärisches Gerät. Davon wußte sie nichts, sagt die Frau und tupft ihre Augen mit einem Papiertaschentuch trocken. „Vielleicht habe ich das Datum aber einfach auch nur verdrängt.“

Die große Parade auf dem Platz des Sieges, erst Hansa- dann Adolf-Hitler-Platz, hat die Frau nicht gesehen, nur die vielen roten Begrüßungstransparente. In den letzten Tagen hat sie jede Nacht von ihrer Flucht geträumt. Sie weiß nicht, ob sie noch einmal die Kraft und das Geld aufbringt, wiederzukommen. Der Kinderabteilung der Städtischen Tuberkuloseklinik in dem Ort Rauschen hat sie 500 Mark geschenkt.

Die Jahrestage zum 9. April 1945, dem Tag, an dem die „Festung Kjonigsbergskaja“, wie die Russen die Stadt damals nannten, endlich fiel, waren in Kaliningrad bisher nie ein Anlaß gewesen, sich herauszuputzen. Viel wichtiger waren der „Tag des Sieges“, der 8. Mai oder auch der 23. Februar, der „Tag der Gründung der Roten Armee“. Da pilgert man als guter Kaliningrader zum zentralen Denkmal, der „Gedenkstätte der 1.200 Helden“ am Ende der Straße der Gardisten und legt vor dem Obelisken und der Ewigen Flamme Blumen nieder für die im Kampf gegen den Hitler-Faschismus gefallenen sowjetischen Soldaten. In diesem Jahr aber ist alles anders.

In diesem Jahr ehrt die Gebietsverwaltung des „Oblast Kaliningrad“ gemeinsam mit dem Oberkommando der Baltischen Flotte die Veteranen, die vom 6. April bis zur Kapitulation vier Tage am „Sturm auf Kjonigsbergskaja“ teilgenommen haben. Der Veranstaltungsreigen zieht sich zwei Wochen hin, aber die Höhepunkte fanden zu den historischen Daten statt: Einweihung der reorganisierten Ausstellung über den Kampf um Ostpreußen im Stadtmuseum, Festakt mit politischer Prominenz, Gespräche mit Jugendlichen in allen Forts der Stadt, um die patriotische Erziehung zu fördern, und, als Finale, ein von den Veteranen angeführter Schweigemarsch vom Paradeort Platz des Sieges zum Kranzablageort „Gedenkstätte der 1.200 Helden“.

Gerechnet hatte die Stadt mit 2.000 Veteranen aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Weil aber wegen der Lasten des Tschetschenienkrieges nur ein kleiner Reisekostenzuschuß gewährt werden konnte oder vielleicht auch weil die Stimmung in Rußland überhaupt sehr mies ist, kamen nur 620 alte Soldaten und Soldatinnen, darunter Kasachen, Usbeken, sogar jemand aus der Mongolei war gekommen, inklusive Kinder und Kindeskinder. „Ich war bei der Erstürmung des Forts III dabei“, erzählt ein einäugiger Usbeke. Und als ob er dies beweisen müsse, zeigt er einen in seiner Heimat erschienenen Zeitungsartikel von 1946 vor, in dem mit vielen Worten und Brustbild die für ihn vermutlich wichtigste Erfahrung seines Lebens geschildert wird. Schwer zu glauben, daß diese Männer und Frauen, deren beste Anzüge und Kostüme verschlissen und deren Schuhe niedergetreten sind, Sieger sind. Sieger, die heute trotz der zusätzlichen Renten für Veteranen oft nicht einmal ihr Existenzminimum bestreiten können. Den Verlierern geht es tausendfach besser.

Während des Schweigemarsches trägt eine alte Frau ein Stalinporträt vor sich her. Später steht sie mit ihrem Bild lange unbeweglich am Fuß des Obelisken und schaut genauso unbeweglich Kaliningrader Jugendlichen zu, die merkwürdigerweise Münzen in die Ewige Flamme werfen. Münzen sind in Rußland nichts mehr wert.

Und noch schwerer ist zu glauben, daß diese netten alten Männer, die sich bei der zentralen Veteranenfeier nach den Schaufensteransprachen mit viel Wodka, Süßwein und einem deutsch-russischen Joint-venture-Bier namens „Ostmark“ bis zum Umfallen betrinken dürfen, vor fünfzig Jahren Rache an der deutschen Zivilbevölkerung genommen haben.

Grausam Rache genommen haben. Für den Überfall auf ihr Land, für ihre Klassifizierung als Untermenschen, für die systematische Mordarbeit der SS-Einsatzgruppen, für den Tod ihrer Freunde und Familienangehörigen, für das Abbrennen ihrer Dörfer, für die Zerstörung ihrer Heimat. „Sie waren im Rausch, und berauscht verloren sie alle Hemmungen“, schreibt Michael Wieck in seinen Erinnerungen „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“.

Die 250.000 sowjetischen Soldaten, die sich im April in die Stadt Schritt für Schritt hineinkämpfen mußten, glühten vor Haß, wie der Arzt Hans Graf von Lehndorff, Vetter des am 20. Juli 1944 gehängten Widerstandskämpfers Heinrich Graf Lehndorff, in seinem „Ostpreußischen Tagebuch“ berichtet. Sie verriegelten die Keller, in denen die Menschen seit Tagen aus Angst vor den pausenlos fallenden Bomben saßen, und steckten über ihnen die Häuser an. Sie banden Menschengruppen zusammen und sprengten sie in die Luft. Sie vergewaltigten die Frauen. Sie stürmten die Krankenhäuser und trampelten auf den Verwundeten herum. Sie erschlugen, erstachen, erschossen tausendfach.

Und bei ihrer Gewaltorgie, die erst zehn Tage nach der Kapitulation der Stadt am 9. April langsam abebbte, differenzierten sie nicht im geringsten zwischen Verfolgten des Naziregimes, jungen Mädchen, Soldaten oder gar echten Nazis. Michael Wieck, einer von zwei oder drei Überlebenden der einst berühmten jüdischen Gemeinde von Königsberg, wurde von den Siegern des Sturms auf Königsberg als vermeintlicher Nazi in das berüchtigte Kasemattenlager Rothenstein eingewiesen. „Frau, komm!“ sagt bei der Veteranenfeier in der Kaliningrader Sporthalle ein ordenbehängter Exsoldat zur Berichterstatterin, als er sie als Deutsche erkennt. Vor fünzig Jahren wäre dies der Beginn einer gewalttätigen Demütigung gewesen, jetzt reicht er einen großen Teller mit Apfelsinenscheiben herüber und bittet anschließend um einen Druschba-Freundschaftstanz.

Fünfzig Jahre nach Kriegsende, Flucht, Deportation, Sowjetisierung spielt bei den offiziellen Feiern die Erinnerung an das Leid der damals in Königsberg von der Partei zum Ausharren verdammten Zivilbevölkerung keine Rolle. Der 9. April 1995 in Kaliningrad ist eine Hommage an die Teilnehmer des „Sturms auf Kjonigsbergskaja“, wie das Ereignis damals wie heute immer noch heißt. Von den Opfern redet niemand. Die vier sowjetischen Armeen, die 30 Schützendivisionen, die zwei Luftflotten haben nach vier Tagen Großangriff die Stadt erobert, um sie ein Jahr später zu Recht endgültig in die Hände von Stalin zu legen. Denn Königsberg war nicht irgendeine Stadt, betonen fast alle Festredner, sondern immer ein „Vorposten des preußischen Militarismus“ gewesen. Und der Oberbefehlshaber der 11. GUS-Armee weitet die historische Leistung der Veteranen noch aus. So sei Königsberg in den letzten „700 Jahren ein Vorposten des deutschen Militarismus überhaupt“ gewesen, eine immer für den Osten gefährliche „Bastion“, die erst am 9. April 1945 endgültig gefallen ist. Den Veteranen sei Dank.

Diese traditionell sowjetische Sichtweise geht dem Gebietsadministrator Juri Matoschkin nun aber doch entschieden zuweit. Königsberg sei nur ein „Vorposten des deutschen Faschismus“, verkürzt er alle Rückblicke auf das Wesentliche, und deshalb müsse es in Zukunft „der russische Vorposten nach Westen“ bleiben. Der Seitenhieb gilt Boris Jelzin. Auf den ist Matoschkin seit einigen Wochen nämlich nicht mehr gut zu sprechen. Denn am 15. März strich der Präsident mit dem Ukas 244 sämtliche Zoll- und Steuererleichterungen aller sogenannten Freihandelszonen. Damit ist Matoschkins Traum von einem wirtschaftlich autonomen und kapitalistisch funktionierenden Vorposten innerhalb der Russischen Förderation vorerst ausgeträumt. Schon haben die ersten ausländischen Unternehmen, zum Beispiel die dänische Schrottverarbeitungsfirma Retsdam, den Bankrott angekündigt.

Das Fest für die Sieger von Königsberg findet in einer höchst kritischen Situation Kaliningrads statt. So ist es auch kein Wunder, daß die bis zur Taille mit Orden behängten armen Veteranen nur noch eines wünschen: Alles soll sein wie früher. Es gibt an diesem Abend deshalb nur einen einzigen Redner, dem sie temperamentvoll Beifall zollen, mämlich den Generalmajor der Reserve Juri Janovskij; er ist einer der Soldaten, die im Auftrag des Oberkommandos der 3. Belorussischen Front dem Festungskommandanten Otto Lasch vor dem Generalangriff ein „Kapitulationsangebot“ übermittelten, das dieser aber leider nicht annahm. Der Generalmajor erwähnt nicht, daß dies das Leben von Zivilisten hätte retten können. Er hält lieber eine Rede, in der er mit den russischen Politikern abrechnet. Sie „und die Massenmedien“ hätten die ruhmreiche sowjetische Armee durch die Auflösung der Union und durch „Dreckwerfen vernichtet“. Er droht damit, bald werde die Armee wieder ihren Spitzenplatz in einem mächtigen Staat von Kaliningrad bis zu den Kurilen einnehmen.

Welch eigenartige Formen das Heroisieren annehmen kann, führte die Direktorin des historischen Stadtmuseums, Frau Penkina, vor. Sie brachte es in ihrer Ansprache zur Ausstellungseröffnung über den „Sturm auf Kjonigsbergskaja“ fertig, den im April 1945 überwiegend fehlenden Durchhaltewillen der KönigsbergerInnen als Feigheit vor dem Feind dazustellen. „Die Blockade von Leningrad haben die sowjetischen Bürger 300 Tage und bis zum Sieg durchgehalten, die Deutschen den Kampf um Kjonigsbergskaja aber nur vier Tage.“ Kein Wunder, daß bei diesem einfachen Weltbild im einzigen historischen Museum der Stadt das Inferno des Sturms auf Königsberg nicht vorkommt. Mit keinem Satz, mit keinem Bild, nicht einmal die Massenflucht aus Ostpreußen.

Diese Darstellung leistet als einziges Projekt bemerkenswerterweise nur das „Museum des Weltmeeres“, jedoch etwas entpolitisiert und diplomatisch mit Fotos über das Leid von Flucht und Vertreibung generell. Es ist eines der insgesamt zwanzig staatlichen Museen Rußlands, die Erlaubnis für diese Ausstellung allerdings hat die Direktorin Siwkowa Swetlana nicht in Moskau eingeholt. Heute abend wird in dem ehemaligen deutschen Frachtschiff „Mars“, dem späteren sowjetischen Forschungsschiff „Witjas“, seit 1990 Museumsschiff, die ständige Ausstellung „Rettung – Hoffnung – Versöhnung“ feierlich eröffnet. Zu sehen sind neben Exponaten zur Geschichte des Schiffes Fotos von der allerletzten Fahrt der „Mars“. Am 12. April 1945 verließ sie, vollgestopft mit Flüchtlingen, den Hafen von Pillau. Auf dem Museumsareal am Kai wird der Bürgermeister von Kaliningrads Partnerstadt Duisburg eine fünf Meter hohe „Versöhnungslinde“ pflanzen. „In all der militaristischen Eindimensionalität“, seufzt der eigens aus Hamburg angereiste Ozeanograph Walter Lenz, „ist dieses Ereignis ein wahrer Lichtblick.“