■ Zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas
: Ratlosigkeit der Nachwelt

In der anhaltenden Kontroverse um die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin und nach dem salomonischen Spruch der Jury sollten einige der bereits früher gestellten Fragen erneut aufgenommen werden. Als wenige Tage vor dem Fall der Mauer im November 1989 der „Förderkreis zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin“ gegründet wurde, war die Stadt noch geteilt, mit sich selbst gewissermaßen nicht identisch. Ursprünglich war der Plan, ein Denkmal „im Lande der Täter zu bauen, fern von den Orten der Vernichtung“, worin man „eine Aufgabe von beispielloser intellektueller und künstlerischer Schwierigkeit“ sah.1

Nun, da Berlin vereint, zumal auch wieder Hauptstadt ist, sollte der Plan an sich ernsthaft überdacht werden. Können die 528 eingereichten Entwürfe der Herausforderung entsprechen? Kann es einer der beiden prämierten Entwürfe? Würde einem solchen Denkmal nicht ein Hauch von Gigantomanie anhaften?

Welche Funktion hat eine so markierte Zentralität? Wäre es heute nicht wichtiger, gerade den föderalen Charakter der „Bundesrepublik Deutschland“ zu betonen, um dem Trend derer, die wieder von „Deutschland“ sprechen, entgegenzuwirken? Ist nicht eine ganze Generation nach dem Krieg mit dem Bewußtsein groß geworden, wenn überhaupt, dann auf diese Föderation als einen Garanten für demokratische Strukturen „stolz“ sein zu können?

Bei dem seinerzeit geführten Streit um die „Neue Wache“ schrieb Jan Philipp Reemtsma in seinen Anmerkungen zur „zentralen Mahn- und Gedenkstätte“ der Bundesrepublik: „Nun ist aber aus den (so muß man es rückblickend sagen) beiden Provisorien, BRD und DDR, ein Staat geworden, die Bundesrepublik Deutschland, und nun wollte der amtierende Bundeskanzler etwas schaffen, was den beiden zuvorigen Deutschländern nicht gelungen ist, so oder so.“2

Den beiden „zuvorigen Deutschländern“ ist aber auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Holocaust – so oder so – deshalb nur wenig gelungen, weil „die bisherige Holocaustforschung sich dadurch aus[zeichnet], daß sie meist ohne Judentumsforschung vorgeht. Diese Schwäche hat sie von der Antisemitismusforschung geerbt.“3

Zudem unterließ man in der alten Bundesrepublik die strukturell notwendige Unterscheidung zwischen dem Holocaust einerseits und dem Zweiten Weltkrieg andererseits. In der DDR geriet der Holocaust gar nicht erst ins Blickfeld. So gesehen, stellt sich erneut die grundsätzliche Frage, „für“ wen ein Holocaust-Denk-, -Mahn- oder -Erinnerungsmal geplant und errichtet werden soll. Wird es „für“ die ermordeten Juden errichtet, also um jener Menschen zu gedenken, die (mit oder ohne Grabstätte) tot sind? Oder wird es „für“ heutige Betrachter errichtet? Nehmen jüdische Passanten ein solches Mal ähnlich oder nahezu gleich wahr wie nichtjüdische? Müßte es nicht neben der Erinnerung auch eine angedeutete Auskunft über die Ursachen der Morde bieten?

Lassen sich diese unterschiedlichen Notwendigkeiten vereinbaren? Und wenn ja: Könnte ein solches „Gebilde“ das bündeln, was in der Frage von Gunnar Heinsohn „Warum Auschwitz?“ formuliert ist: „Hitlers Ausrottungskampf gegen das Judentum ist auch nach mehr als 40 Theorien und 50 Jahren immer noch unbegriffen. [...] Hitlers Opponenten, Analytiker und auch die meisten seiner Untertanen reden von Primitivität, Wahn, Barbarei [...], weil sie von einer Moral her denken, die sie zu diesen Aussagen befähigt. [...] Was sich Hitler vorgenommen hatte, konnte ohne Wahn oder einfach ohne unmäßigen Haß geschehen. [...] Oft und maßlos war das mosaische Gesetz gebrochen, aber eben doch nicht abgeschafft worden. Der Gedanke, sich durch genozidale Ausschaltung der jüdischen Liebes- und Lebensschutzgebote überlegene Schlagkraft zu sichern, wurde Hitlers ureigener Beitrag zur modernen Kriegsgeschichte.“

Das lebensbejahende jüdische Selbstverständnis, wie es in der hebräischen Bibel dargestellt wird, stellt einen konstruktiven Zivilisationseinschnitt dar, indem man sich gegen die Kulte seiner Zeit abgrenzte. Gleichzeitig nahm das Volk Israel seinen Gott als Gegenüber wahr. Ein Gegenüber, das sich selbst in „Unabhängigkeit“ von seinem Volk sieht, so daß das Volk Israel und der Gott Israels in gegenseitiger Abhängigkeit bestehen. Diese revolutionäre Dimension macht das Jude-Sein singulär, bis heute – ungeachtet der persönlichen Entscheidung eines jeden Juden für oder gegen religiöse Frömmigkeit.

Spätere Versuche, etwa der christliche, eine sozusagen grenzenlose und weltweite Identität anzubieten, haben zwar die politische Macht gewonnen – den konstruktiven Zivilisationseinschnitt jedoch nicht nachahmen können, auch nicht durch die Kanonisierung der Jesus-Schriften als das „Neue“ Testament. Die weiterhin existierenden Juden stellten ein bleibendes Ärgernis dar, das zu verschiedenen Zeiten den Wunsch weckte, sie zu eliminieren. Die mittelalterlichen Kreuzzüge oder die spanische Inquisition sind die bekannteren Beispiele. Christlichen Theologen war jedoch bewußt, daß ein Eliminieren des „Israel nach dem Fleisch“ ihnen die eigene Grundlage entziehen würde, war Jesus doch ein Jude und waren die Schriften des sogenannten Alten Testaments die Grundlage für die eigenen Schriften des Neuen Testaments.

Diesen pragmatischen, zugleich aber zutiefst existentiellen Vorbehalt der Kirchen hatte eine post- aufklärerische, säkulare Ideologie, die Religionen überwunden und bereits hinter sich gelassen hatte, nicht mehr nötig. Somit geriet der säkulare Versuch einer „Antwort“ auf das bleibende Ärgernis der Fortexistenz des Judentums zum destruktiven Zivilisationseinschnitt.

Heinsohn begründet des weiteren, weshalb es bei der geplanten Auslöschung des Judentums grundsätzlich und erkennbar um mehr als Genozid ging: Es handelte sich um die Identität der Mehrheitsgesellschaft selbst, in ihrer Suche nach einer Antwort auf jenes bleibende Ärgernis, das als Anfechtung der eigenen Identität wahrgenommen wurde. Es ging und geht um das Eigene.

Deshalb gestalten sich Diskussionen hierüber so zäh bis befangen, deshalb herrscht die „Ratlosigkeit der Nachwelt“ weiterhin vor und präjudiziert die meisten Auseinandersetzungen.

Weil also „für“ die Nachfahren von Auschwitz (jüdische wie nichtjüdische) die Abstraktion „Auschwitz“ nicht versinnbildlicht werden kann, sollten die 528 eingereichten Modelle – real oder auf Video aufgezeichnet – das virtuelle Denkmal des konkreten Gedenkens bilden. So würde der „Ratlosigkeit der Nachwelt“ die ihr entsprechende Form gegeben. Edna Brocke

Die 1943 in Jerusalem geborene Autorin lebt seit Ende 1968 in der Bundesrepublik, ist Lehrbeauftragte an der Ruhr-Universität Bochum und leitet seit Januar 1988 die Gedenkstätte „Alte Synagoge“ in Essen.

1 Joachim Braun in: „Tribüne“ 121/1992

2 in „Konkret“ 1/94

3 Gunnar Heinsohn, „Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt“. Hamburg 1995