Vom Urschlamm langsam erstickt

Das Neue Forum steht vor seiner Auflösung / Der Streit um den Nachlaß des einstigen DDR-Projekts ist entbrannt / Bärbel Bohley schlägt die Gründung einer Stiftung vor  ■ Aus Berlin Severin Weiland

Wenn sich Reinhard Schult und Sebastian Pflugbeil im Berliner Abgeordnetenhauses begegnen, besprechen sie nur das Notwendigste. „Wir versuchen uns so gut es eben geht aus dem Wege zu gehen“, diagnostiziert der 47jährige Pflugbeil kühl.

Das Verhalten der beiden Abgeordneten des Neuen Forum ist symptomatisch für den Niedergang der einstigen DDR-Schöpfung. Über fünf Jahre nach der Gründung steht die Bürgerrechtsbewegung, die in den neuen Bundesländern noch rund 1.000 Mitglieder zählt, vor dem Aus. Viele Prominente – wie etwa Jens Reich – haben sich vom einstigen Wende- Projekt verabschiedet.

Im kommenden Sommer soll auf einem Bundesforum die Entscheidung über die Zukunft fallen. Während Schult die „organisatorische Hülle“ erhalten möchte, um den „Rückzug in die Wohnzimmer“ zu verhindern, will Bärbel Bohley die Auflösung. Eine Stiftung unter demselben Namen schwebt ihr vor: „Das wäre die beste Art eines Schlußstriches und würde dem Geist der Bürgerbewegung entsprechen“.

Mittlerweile haben sich jedoch ganz andere Geister der Organisation bemächtigt, die ursprünglich nie eine Partei im traditionellen Sinne sein wollte. Bei einer Überprüfung der Mitgliederbeiträge wurden kürzlich rund 60 Personen aus der Kartei gestrichen – darunter auch die MitgründerInnen Bohley und Pflugbeil. Nun soll ein Schiedsgericht des Neuen Forum über den „kalten Rausschmiß“ (Bohley) entscheiden.

Auf ihrem langen Weg abseits der Institutionen verschliß sich das Neue Forum in persönlichen Fehden und politisch motivierten Abspaltungen. Im September 1989 in Grünau bei Berlin von Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen ins Leben gerufen, sollten völlig neue Wege beschritten werden. „Nicht links, nicht rechts, sondern quer“, hieß das Motto. Doch kaum hatte sich die Organisation den Anforderungen des bundesdeutschen Parteiengesetzes gebeugt, begann der Erosionprozeß. Im Sommer 1991 wanderten von damals geschätzten 5.000–6.000 Mitgliedern rund 2.000 zu den Bündnisgrünen ab.

Die Wahl in mehrere Kommunal– und Landesparlamente kratzte von Anbeginn am Selbstverständnis. Nie konnte die Bürgerbewegung den Konflikt mit der „Stellvertreter-Demokratie“ lösen, wie die kürzlich aus dem Neuen Forum ausgetretene Berliner Abgeordnete Irina Kukutz meint. Selbst bei „hauseigenen Themen“ wie der Stasi habe das Neue Forum „nicht viel geboten“, schließt sich selbstkritisch Pflugbeil der Schelte an. Die mühsame Kleinarbeit des Abgeordneten sei eben nicht die „Sache eines Bürgerbewegten, eher schon die Organisation einer Demo“. Auch Schult ist vom parlamentarischen Alltag ernüchert: „Man kann hier drinnen nichts bewegen“.

Das Ziel, die Basis möglichst an allen Diskussionen zu beteiligen, um die Alleingänge einzelner zu vermeiden, kollidierte mit den Realitäten der bundesdeutschen Medienwelt. Je öfter die Prominenten vor die Kameras traten oder in den Medien zitiert wurden, um so giftiger reagierte das Fußvolk. Dem „Presse-Unwesen“, der Inanspruchnahme ihrer Namen hätten sich die Prominenten „nur begrenzt entgegenstellen können“, so Pflugbeil.

Das fünfjährige Gastspiel im Berliner Abgeordnetenhaus nähert sich dem Ende. Selbst wenn die Organisation doch noch zu den Wahlen am 22. Oktober antreten sollte – Chancen rechnet sich keiner der Beteiligten aus. Das letzte Experiment – die von Bohley initiierte Teilnahme an den Europawahlen im Sommer 1994 – endete mit einem katastrophalen Ergebnis.

Ein Teil der Gründergeneration hat mittlerweile die Dissidentenrolle wieder angenommen. Zusammen mit Bohley gründete Pflugbeil mit Gleichgesinnten eine eigene Basisgruppe innerhalb des Neuen Forums. Immer häufiger habe ihn nach Vollversammlungen ein „zorniges Gefühl“ beschlichen, sagt Pflugbeil: „Diskussionen über Mitgliederbeiträge mit der Bierflasche in der einen und der Zigarette in der anderen Hand sind eben doch nicht meine Welt.“ In der internen Auseinandersetzung verwischen die Grenzen zwischen persönlicher Eitelkeit und politischem Anspruch. Schult wirft Pflugbeil und Bohley vor, sich mehr und mehr den Diskussionen entzogen zu haben. Den Vorwurf, die Basis aus den Augen verloren zu haben, kann Bohley nicht mehr hören. Es gebe auch einen „gewissen Basisschlamm, der etwas erstickendes an sich habe, der nicht nur Personen, sondern letztlich auch Organisationen lähmt“.

Das Ende gleicht dem Gefecht von Nachlaßverwaltern am Sterbebett. Oder, wie es Pflugbeil ausdrückt: „Je weniger Mitglieder und je mehr Häuptlinge in einer Organisation übrigbleiben, umso härter werden die Richtungskämpfe“.