Zwischen Wahrheit und Dichtung

■ Die letzten Tage des Krieges - eine taz-Serie (Teil 3): Der sowjetische Dichter und Kriegsberichterstatter Jewgeni Dolmatowski war der Protokollant der Berliner Kapitulation im Mai 1945

„Es gibt im Leben eines Menschen Tage, die sich ihm für immer ins Gedächtnis einprägen“, schreibt der sowjetische Dichter Jewgeni Dolmatowski 1970 im Sputnik. Damit meinte er die ersten Maitage 1945, an denen in Berlin der Krieg zu Ende ging.

Als offizieller Kriegsberichterstatter war er vier Jahre lang den Fronten des Zweiten Weltkriegs gefolgt. Seine Verse erschienen auf den Seiten der Soldatenzeitungen und in der zentralen Presse. Mit den Eindrücken des Krieges füllte er sechs Gedichtbände! Dolmatowski war als Protokollant bei den Kapitulationsverhandlungen in Tempelhof am 1. und 2. Mai 1945 zugegen. Die einzigen vorhandenen Mitschriften der Gespräche stammen vom ihm.

Nachdem die Kapitulationsaufforderung unterschrieben, vervielfältigt und in den Händen russischer Offiziere Tempelhof verlassen hatte, um in allen Stadtteilen Berlins verlesen zu werden, machte sich der Dichter auf in Richtung Reichstag. Marschall Shukow hatte bereits den Befehl gegeben, das Feuer einzustellen. Der Dichter sah, wie die Straßen sich mit Menschen füllten: Befreite Zwangsarbeiter begrüßten die Rote Armee. Deutsche Soldaten warfen ihre Waffen auf immer größer werdende Haufen. Die sowjetische Artillerie deckte ihre Geschütze ab. In den Fenstern erschien eine weiße Fahne nach der anderen. „Ich ging durch den Tiergarten. Irgendein Tier brüllte verzweifelt, es schien verwundet zu sein. Es war ein Nilpferd, das in einem kleinen Wasserbecken schwamm. In seinem grauen, massigen Rücken steckte eine nichtdetonierte kleinkalibrige Mine.“

Auf dem Reichstag wehten rote Fahnen. Dolmatowski ritzte, wie alle anderen russischen Soldaten auch, seinen Namen in eine Säule des Gebäudes. „Ich trat die Stufen empor und betrat den brandgeschwärzten Reichstag. Im Sitzungssaal bot sich, von Kerzen und Öllichtern beleuchtet, ein trauriger Anblick: Auf Bahren oder unmittelbar auf dem Fußboden lagen verwundete Deutsche. Krankenschwestern legten ihnen Verbände an. Irgendwoher aus dem Keller stieg beißender Rauch empor. Unsere MP-Schützen führten SS- Leute mit rußschwarzen Gesichtern heraus. Ich trat an das Rednerpult. Darunter entdeckte ich einen bronzenen Hitlerkopf, der von irgendeinem Denkmal heruntergerissen worden war. Ohne selbst zu wissen, warum, hob ich ihn auf und trug ihn aus dem Gebäude heraus. Er war schwer, und am Brandenburger Tor warf ich ihn weg; scheppernd rollte er über die Pflastersteine.“

Dann kletterte Dolmatowski über die Barrikaden am Brandenburger Tor. Dahinter stieß er auf russische Panzersoldaten, die anscheinend noch nicht mitgekriegt hatten, daß der Krieg für sie vorbei war. Dolmatowski erklärte dem Kommandanten, daß er gerade bei der Unterzeichnung der Kapitulation zugegen gewesen sei. Das solle er den Soldaten selbst erzählen, befand der Kommandant. Der Dichter kletterte auf den nächsten Panzer. Von dort „berichtete ich den Gardisten all das, was ich über das Ende des Reiches wußte“. Die günstige Gelegenheit ausnutzend, verlas er anschließend, unter der angeblichen Begeisterung der Anwesenden, sein neuestes Gedicht. Es handelt von der nur wenige Stunden zurückliegenden Kapitulation: „Nun sind wir hier. Und die Gedanken kehren zurück nach Stalingrad...“ Kerstin Schweizer