: Die Afghanen mögen keine Verlierer
Die Taleban oder Religionsschüler führen in den Gebieten, die sie beherrschen, ein strenges Regiment ■ Aus Kabul Ahmad Taheri
Granaten krachen im Tal. Gelbbraune Staubsäulen zeigen, wo sie einschlagen. Seit zwei Tagen wird in der Provinz Logar südlich von Kabul, der afghanischen Hauptstadt, gekämpft. Die Regierungstruppen versuchen, die Taleban oder Religionsschüler, wie die neue afghanische Kriegspartei genannt wird, aus der Gegend zu verjagen. Die Straße ist voller Krater. Unser klappriger Wolga fährt im Schneckentempo.
Drei Stunden dauert die 50 Kilometer lange Fahrt von Kabul zum Stützpunkt der Taleban. Vor einem Lehmhaus stehen mehrere Panzer. In dem halbdunklen Raum des Hauptquartiers der Gruppe hocken zwei Dutzend bärtige Männer um die Fleisch- und Reistöpfe. Sie tragen schwarze oder weiße Turbane. Ansonsten sind sie gekleidet wie alle afghanischen Mudschaheddin: Pumphose, knöchellanges Hemd, Weste und ein gestreiftes Tuch über der Schuler.
Mullah Mohammed Rabbani, der Kommandant, ist ein 32jähriger Paschtune von wuchtiger Gestalt. Er stammt aus Kandahar und ist der zweite Mann der Talebanbewegung. Er sei gekommen, sagt Rabbani, um Kabul persönlich von „Mördern und Räubern zu befreien“. Nach dem Essen holt mein japanischer Kollege arglos seine Nikon aus der Fototasche. „Weg mit dem Ding“, befiehlt der paschtunische Mullah. „In einem Haus, wo Bilder hängen, fliegen keine Engel“, zitiert er einen angeblichen Spruch des Propheten. Den jungen Taleban, die draußen in der Sonne liegen, ist das anscheinend schnuppe. Sie stehen auf, greifen zur Kalaschnikow, rücken ihre Turbane zurecht und posieren vor der Kamera. Die Afghanen, welche Fahne sie auch immer hissen, lieben es, fotografiert zu werden.
Als wir am Abend wieder in unserer Kabuler Herberge sitzen, schimpft eine dänische Journalistin über die Taleban. Sie war am Nachmittag in Maidan-Schahr, 45 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, um mit den Taleban zu sprechen. Die junge Frau hatte zwar die blonden Locken züchtig unter einem Kopftuch verhüllt und die blauen Augen mit einer dunklen Brille verdeckt. Dennoch durfte sie nicht einmal das Auto verlassen. Mit fremden Frauen würden die Taleban nicht reden, hat man sie wissen lassen.
Der Fundamentalistenführer Gulbuddin Hekmatyar hätte die junge Dänin mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen. Die afghanischen Islamisten haben keine Berührungsangst ausländischen Frauen gegenüber. Doch die Taleban sind keine Islamisten. Sie sind religiöse Sunniten der hanafitischen Richtung, Eiferer traditioneller Art, Fundamentalisten nur im religiösen Sinn. Den ideologischen Islam eines Hekmatyar halten sie für Bad'a, für eine gotteslästerliche Innovation. „Die einzige Rechtgläubigkeit“, sagt Mullah Rabbani, „ist der hannafitische Glaube“. Die Afghanen und die anderen Völker Mittelasiens folgen Abu Hannifa, dem islamischen Theologen iranischer Herkunft aus dem 8. Jahrhundert.
Neben dem Propheten und Abu Hannifa ist das Leitbild der Taleban Ahmad Schah Abdali. Der paschtunische Stammesfürst aus Kandahar vereinte im 18. Jahrhundert das zerrissene Land und eroberte große Teile Indiens. „Wir sind Söhne von Ahmad Schah“, sagt Rabbani voller Stolz. Der stiernackige Koranlehrer vereint in sich die paschtunische Großmannssucht und die Frömmigkeit eines steinzeitlichen Dorfmullahs. „Wenn Afghanistan befreit ist“, sagt er vollmundig, „dann sind Iran, Pakistan und die Länder jenseits des Amu Darja an der Reihe.“
Anfänglich bestand die Talebanbewegung aus 800 Schülern. Sie waren Kinder der in Pakistan lebenden paschtunischen Flüchtlinge aus Afghanistan. Bevor sie zur Waffe griffen, lernten sie in den von der Dschama'at-e Ulama-e Islami, einem pakistanischen Theologenverein, errichteten Medressen den Koran, prophetische Überlieferung und die arabische Syntax. „Wir hörten“, sagt Hadsch Ahmad Dschan, der Sprecher der Taleban im pakistanischen Peschawar, „wie in unserer Heimat Muslime gegen Muslime kämpften, die Frauen geschändet und die Knaben vergewaltigt wurden. Unsere Herzen bluteten vor Schmerz.“
Eines Tages im vergangenen Herbst hißten Ahmad Dschan und seine Kommilitonen die weiße Fahne des Friedens und marschierten, in der linken Hand die Kalaschnikow, in der rechten den Koran, in das afghanische Vaterland ein. Unterwegs entwaffneten sie im Namen des Allmächtigen die Mudschaheddingruppen, die als Wegelagerer die Straßen unsicher machten. Einer ihrer Lehrer, der pakistanische Theologe Moulawi Abdolghani, hatte zum Dschihad gegen „das Verderbnis“ im afghanischen Nachbarland aufgerufen.
Daß ausgerechnet ein pakistanischer Mullah zum Heiligen Krieg getrommelt hatte, erhärtete den Verdacht, hinter den frommen Studenten stünde der pakistanische Geheimdienst und Islamabad wolle mit Hilfe der Taleban die Transportwege zwischen Indus und Amu Darja sichern. Als erste Stadt öffnete Kandahar, das Zentrum des afghanischen Südens, den weißgewandeten Scharen seine Tore. Die Bevölkerung empfing die Taleban mit Jubel. Ihr Ruf als Heerscharen des Friedens war ihnen vorausgeeilt. Seitdem ist Kandahar, Stadt der Granatäpfel und der Päderasten, die Hauptstadt der Bewegung.
In Kandahar residierte Moulawi Mohammad Omar, der unangefochtene Führer der Taleban. Der baumlange, hagere Paschtune, 36 Jahre alt, nennt sich Amir al-Mu'menin, Fürst der Gläubigen. So nannten sich einst die islamischen Kalifen. Für seine Gefolgschaft heißt er indes „Omar-e sani“, der zweite Omar. Der erste Omar war der frühislamische Khalif, der das persische Reich eroberte. Wie sein Namensvetter gibt sich der Talebanführer als Mann der einfachen Lebensführung und strengen Gerechtigkeit. Unter einem Baum auf dem nackten Boden hockend, empfängt er den Besucher.
Der „zweite Omar“ dünkt sich als Hüter der Scharia, des islamischen Rechts. 36 Dieben ließ er die Hand abhacken. Ein räuberischer, pädophiler Mudschaheddinkommandant baumelte drei Tage lang am Galgen. Einer Frau, deren Sohn von einem Bandenchef getötet worden war, drückten die Taleban vor dem versammelten Volk eine Kalaschnikow in die Hand, auf daß sie die Ghisas, die islamische Vergeltung, vollziehe. Zweimal durfte sie abdrücken, denn ihren Sohn hatte man mit zwei Kugeln im Kopf gefunden. Derlei barbarische Brauchtümer nennen die Taleban „Haqq an-Nas“, die „Rechte der Menschen“.
Mohammad Omar ordnete die strenge Trennung der Geschlechter an. Den afghanischen Frauen verbot er den Gang zum Basar. Doch bald beklagten sich die Ehemänner. Sie und ihre Kinder müßten sich am Abend mit hungrigem Bauch schlafen legen. Und die Ladenbesitzer liefen Sturm, der Verlust an weiblicher Kundschaft ruiniere ihre Existenz. Der Talebanchef zeigte Einsicht, berief sich auf das religiöse Prinzip der Notwendigkeit und hob das Ausgangsverbot für die „Schwarzköpfe“ auf, wie die Frauen in Afghanistan wegen ihres sackartigen Gewandes, das sie von Kopf bis Fuß einhüllt, genannt werden.
Auch für die Männer ist die „islamische Kleidung“, das heißt die traditionelle afghanische Tracht, im Machtbereich der Taleban obligatorisch. Wer in westlicher Kluft oder mit unbedecktem Haupt oder rasiertem Kinn erwischt wird, muß vor den Kadi. Den strengen Sitten sind auch die schönen Locken der jungen Afghanen zum Opfer gefallen. „Der Prophet selbst trug schulterlanges Haar!“ sage ich zu dem Talebanführer Mohammad Rabbani. „Der Gesandte Allahs“, erwidert er, „wusch und kämmte täglich seine gesegneten Locken und verdeckte sie unter dem Turban. Diese Burschen aber mit ihren wilden Mähnen erschrecken Weiber und Kinder.“
Als Männer des islamischen law and order gelang den Taleban in wenigen Monaten der Siegeszug durch elf von 30 afghanischen Provinzen. Das geschundene Volk empfand sie als himmlische Heerscharen. „Sie sind Engel in Menschengestalt, von Gott geschickt, um Afghanistan zu retten“, riefen Prediger in den Moscheen beiderseits der Grenze. Hinter der Begeisterung für die Taleban stand auch der paschtunische Nationalismus. Die Taleban wurden als Vortruppe des Paschtunentums auf dem Marsch in die afghanische Hauptstadt betrachtet. Scharenweise schlossen sich die paschtunischen Mudschaheddinkämpfer mitsamt ihren Waffen den Taleban an. Die Gruppe wuchs um 25.000 Mann. Die Taleban verfügen heute, wie ihr Sprecher Ahmad Dschan sagt, über 350 Panzer, zwölf Mig-Bomber und sechs Hubschrauber. „Wer bedient diese Waffen?“ – „Die reuigen Offiziere des kommunistischen Regimes“, antwortet Talebanführer Rabbani.
Daß eine Reihe Chalqi, die Nationalkommunisten paschtunischer Herkunft, mit den Taleban zusammenarbeiten, ist inzwischen kein Geheimnis mehr. General Schahnawas Tani, einst Innenminister des Kommunisten Nadschibullah, soll jetzt unter dem Namen Mullah Baschir dem Talebanführer Omar als Ratgeber zur Seite stehen. Mullah Rasul, ein getöteter Talebankommandant, wurde als Abdol Wakil, der ehemalige Kommunistenchef der Provinz Kapisa, identifiziert.
Sechs Monate nach ihrem ersten Auftritt standen die Taleban in Dscharasiab unweit von Kabul. Von hier aus hatte der fundamentalistische Zelote Hekmatyar drei Jahre lang die afghanische Hauptstadt beschossen. Vor der Ankunft der Studenten hatte Hekmatyar in Nacht und Nebel das Weite gesucht, ohne alle seine Waffen mitzunehmen.
Die schmachvolle Flucht des berüchtigten Warlords gereichte den Taleban zur Ehre. Ihr Ruhm reichte nun weit über die afghanische Grenze hinaus. Mahmud Mistiri, der UNO-Beauftragte in Sachen Afghanistan, bezeichnete die siegreichen Koranschüler als eine neue Kraft, die den „Friedensprozeß in Afghanistan vorantreiben“ werde. In Dscharasiab forderten die Taleban die Regierungstruppen auf, die Waffen niederzulegen. Sie würden selbst für Ruhe und Ordnung in Kabul sorgen. Staatspräsident Burhanuddin Rabbani, ein mit allen Wassern gewaschener Politiker, spielte auf Zeit. Radio Kabul sprach von der „heiligen Sache unserer lieben Taleban“.
Nun schaute man in Afghanistan mit angehaltenem Atem nach Kabul und erwartete den Showdown im Kampf zwischen den Taleban und der Regierung. Die ersten Geschosse kamen aus Dscharasiab. Aus den Friedenstauben waren inzwischen Kampfhähne geworden. Mehrere Dutzend Zivilisten fielen im Basar den Geschossen der wütenden Theologen zum Opfer. „Hekmatyar“, sagte Gulalgha, unser Fahrer, „schoß täglich 20 bis 30 Raketen auf Kabul. Die Taleban brachten es auf 200 in zwei Stunden.“
Die Vergeltung ließ nicht auf sich warten. In der Nacht vom 17. zum 18. März wurde Dscharasiab von Ahmad Schah Masud bestürmt. Um fünf Uhr morgens, vor dem Ruf des Muezzins zum Gebet, meldete Radio Kabul den „Fath-ul Futuh“, den Sieg aller Siege. Als die Sonne aufging, waren die letzten Taleban geflüchtet. Die Hügel waren mit den Leichen der weißgekleideten Kämpfer aus dem fernen Kandahar übersät.
In der Schlacht um Dscharasiab haben die Taleban den Nimbus ihrer Unbesiegbarkeit verloren. Die selbsternannten Retter Afghanistans haben in der Stunde der Bewährung versagt. Und die Afghanen mögen keine Verlierer. „Wer heute mit erhobenem Haupt geht, ist ein Tadschike, der mit gesenktem Kopf ein Paschtune“, sagt Gulagha, der Fahrer.
Der ethnische Haß greift in Afghanistan um sich. Der Kampf der zänkischen Mudschaheddingruppen ist auf dem besten Weg, in die Schlacht der eifersüchtigen Völkerschaften zu münden. Seit 250 Jahren hatten die Paschtunen in Kabul die Macht inne. Selbst die kommunistischen Führer waren fast alle paschtunischer Herkunft. Daß jetzt die Tadschiken in Kabul das Sagen haben, ist ein Dorn im paschtunischen Auge. „Alles ist in unserem Land verrückt geworden“, sagt Abdolkarim Niasi, ein nach Dschalalabad geflüchteter Kabuler Kaufmann. „Pflanzen, Tiere, Menschen und Mullahs. Wann wird dieser Buskaschi ein Ende haben?“ Buskaschi, das „Ziegenziehen“, ist ein afghanisches Reiterspiel, bei dem um eine tote Ziege gekämpft wird. Am Ende des Kampfes bleibt vom Kadaver nur ein zerfetztes Bündel von Haut und Knochen.
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