"Dann eben ohne Zielgruppe"

■ Beim 3. Deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffen in Berlin kamen die Kinder und Jugendlichen insgesamt etwas kurz, und ungeniert stimmten sie mit den Füßen ab

Ein weit aufgerissenes Auge auf zwei Beinen in vollem Spurt – ein besseres Symbol für das 3. Kinder- und Jugendtheater-Treffen in Berlin, das am Donnerstag zu Ende ging, läßt sich kaum denken. Atemlos hetzten TheatermacherInnen, KritikerInnen und PädagogInnen zwischen den Aufführungen und Diskussionen hin und her. Zehn von 150 deutschen Inszenierungen hatte die Jury für das Treffen nominiert, dazu kamen Aufführungen aus anderen europäischen Ländern.

„In der gebeutelten Kulturlandschaft Berlins ist das Treffen ein Zeichen, daß Kinder- und Jugendtheater selbstverständlich zur Kulturpolitik gehört“, erklärte Wolfgang Schneider, Leiter des deutschen Kinder- und Jugendtheaterzentrums, das das Festival zusammen mit dem carrousel-Theater veranstaltet hat.

Alle deutschen Inszenierungen stammen von zeitgenössischen AutorInnen. Die Problempalette der Stücke für ältere Kinder und Jugendliche reicht von Jugendgewalt und Obdachlosigkeit über die Wirren der Wendezeit bis hin zur Suche nach Identität und Zuwendung. Daß man wichtige Themen auch ernsthaft komisch darstellen kann, zeigt die einzige Komödie beim Theatertreffen.

Tom Griffins „Die Jungens von nebenan“ erzählt von einer Wohngemeinschaft aus geistig behinderten und psychisch gestörten Jugendlichen. Die Kommunikationsprobleme der vier Sonderlinge, ihre Hilflosigkeit und Ungeschicklichkeit im Alltag sind zum Totlachen. Und doch hat dieses Lachen in der Braunschweiger Inszenierung von Michael Heicks nichts mit Überheblichkeit zu tun.

Aus Freiburg und in der Regie von Dieter Kümmel wurde Beat Fähs „Käthi B.“ gezeigt – ein Stück, das das Grauen der Einsamkeit beschwört. In einem Keller hockt ein Mädchen allein in einem Schrank. Als ein Mann hinunterkommt, erpreßt sie ihn zum Bleiben und fesselt ihn an einen Stuhl, nur damit jemand mit ihr spielt. Kirsten Trustaedts Käthi ist ein völlig altersloses Mädchen mit einer Stimme so rauh und fremd, als habe sie sie schon seit Jahren nicht mehr benutzt. Auch der Mann ist durch eine bleiche Maske verfremdet. Ob Kinder mit dem spukhaften Machtkampf etwas anfangen können, war nicht festzustellen, denn es kamen keine.

„Dann eben ohne Zielgruppe“, resignierten die SchauspielerInnen. Kinder machten sich überhaupt eher rar, das Treffen ist vor allem eine Fachtagung. Schon nach zwei Tagen forderte die Redaktion des Augen-Fühlers – eines sehr liebevoll gestalteten Theater-Blättchens, das dreißig Berliner SchülerInnen während der Dauer des Festivals täglich im caroussel produzierten –, man solle mehr für die eigentlichen Adressaten der Stücke tun, zum Beispiel Kinder hinter die Kulissen gucken lassen. Wo jugendliche ZuschauerInnen in Klassenstärke erschienen, machten sie keinen Hehl aus ihrer Meinung. In Pulks verließen SchülerInnen aus Bernau Ulrich Plenzdorfs „Mörderkind“ schon nach 45 Minuten. Die Inszenierung von Armin Petras aus Frankfurt (Oder) ist mit Bildern und Bedeutungen hoffnungslos überfrachtet.

Im Zentrum des Stückes steht ein Junge aus Schwedt, dessen Vater als ehemaliger RAF-Terrorist im Jahr eins nach der Wende verhaftet wird. Um das Gerüst der Vater-Sohn-Beziehung schlingt sich ein üppiger Strauß von Motiven: Ostalgie, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Nazi-Vergangenheit, Jugendgewalt. Viele Szenen sind sehr bildkräftig, aber die Inszenierung verliert ständig den Faden.

Auch das klassische Jugendthema Identität kommt vor. „Sturmhöhe“ von Susanne Schneider zeigt die Brontä-Schwestern schreibend und träumend in ihrer Mooreinsamkeit. Aus der Konfrontation der Pfarrerstöchter mit Lord Byron, dem dichtenden Welten- und Schlachtenbummler, entsteht ein psychologisch genaues kleines Emanzipationsdrama. Die Kieler Aufführung war übrigens die einzige deutsche Inszenierung, bei der eine Frau (Franziska Steiof) allein Regie geführt hat.

Höhepunkt des Festivals war ein Stück, das für Erwachsene geschrieben wurde: „Ghetto“ von Joshua Sobol. Das Ensemble vom Theater Junge Generation Dresden versammelt sich wie zur Probe und beginnt Atem- und Entspannungsübungen. Nach und nach verwandeln sich die SchauspielerInnen in die BewohnerInnen des Wilnaer Ghettos. Regisseur Arne Retzlaff betont die Ensemble-Szenen – das Theaterspielen „auf dem Friedhof“, die grelle Überlebenslust der Gequälten. In „Ghetto“ waren viele Jugendliche. Und sie hörten sogar zu. Miriam Hoffmeyer