Ein Professor im Wunderland

Ein deutscher Versuch, den englischen Nationalcharakter zu erfassen. Manche Erkenntnisse dieser Engländer-Analyse sind banal, andere aber lassen geradezu tief blicken  ■ Von Dominic Johnson

Die Engländer sind seltsame Menschen. Das finden jedenfalls viele Deutsche, die die britische Insel bereisen, alles wunderbar finden und nachher trotzdem mit mehr Fragen als Antworten zurückkommen. Wieso stellen diese Leute sich so brav an der Bushaltestelle an? Wieso ärgern sie sich nicht übers Wetter? Wieso sind Gespräche mit ihnen einerseits ganz leicht, andererseits auch kaum je über die Leichtigkeit hinauszuführen? Und warum ist Engländern selber all dies vollkommen egal? Um solche Fragen zu beantworten, hat der Berliner Professor Hans-Dieter Gelfert ein Buch mit dem Titel „Typisch englisch“ geschrieben. Auf knappen 170 Seiten erfährt der Deutsche darin so ziemlich alles: die Eigenschaften der Engländer (Ritualismus, Höflichkeit, Fairneß, Selbstdisziplin, Understatement, Freiheitsliebe, Individualismus, Kompromißbereitschaf, Naturverbundenheit, Humor ...) sowie die historischen Gründe dafür. Manche Feststellungen sind banal oder albern: „Engländer halten die Gabel verkehrt herum und quetschen selbst die Erbsen auf die Rückseite, statt sie wie die Deutschen mit der richtigen Seite zum Mund zu führen“, heißt es, und prompt folgt die Erläuterung: Es scheine „so, als würden sie damit ganz bewußt den Eindruck des gierigen Hineinschaufelns der Nahrung vermeiden wollen“ – als ob dieser bei einer anderen Gabelhaltung unweigerlich auftreten müßte. Viele sind aber einfach vergnüglich, besonders wenn es sich um historische Begründungen von Geschmacksrichtungen handelt – zum Beispiel in der Darstellung der Folgen der „amphibischen Kultur“, also des klassischen englischen Ideals einer Vereinigung des saisonalen Wechsels von winterlicher Stadtgeselligkeit und sommerlicher Landidylle.

Gelferts Belesenheit und Landeskenntnis ermöglicht es ihm, durch die Archäologie des „typisch Englischen“ luzide Durchblicke durch die britische Geschichte zu bieten, wie sie ansonsten in richtigen Geschichtsbüchern kaum anzufinden sind. Zugleich demontiert er dadurch den weitverbreiteten englischen Mythos, alles sei schon immer so gewesen, und belegt durch den Nachweis der Kurzlebigkeit vieler englischer Gewohnheiten, die ansonsten nicht explizit angesprochene tiefere englische Tugend der Anpassungsfähigkeit.

Doch sollten sich die deutschen Leser davor hüten, nach der Lektüre zu meinen, nun würden sie plötzlich alles verstehen und durchschauen. In seinem Erklärungsanspruch ist dieses Buch nämlich auch ein Ausdruck der auch von Gelfert als typisch deutsch anerkannten Suche nach Totalität und der deutschen Methode, daß „das Individuelle in einer übermächtigen Ganzheit aufgelöst wird“. Gelfert wagt sogar die „Behauptung, daß alle typischen Züge der Engländer in einer einzigen Formel zusammenlaufen“. Wir wollen die Formel hier nicht preisgeben, und sie würde auch nichts nützen. Der Deutsche, der sie Engländern ins Gesicht sagt, würde an den verblüfften und nachsichtig-verständnislosen Reaktionen merken, daß er dadurch mehr über sich selber verrät als über sein seltsames Gegenüber.

Hans-Dieter Gelfert: „Typisch englisch. Wie die Briten wurden, was sie sind“, Beck 1995. 176 Seiten, 19,80 DM