*Zeno* smiles at you:-)

Clarice pfeift auf den abendlichen Kneipengang. Viel lieber düst sie ab ins Internet Relay Chat. Dort trifft sie Freunde – dort traf sie Zeno. Eine wahrhaft virtuelle Computer-Liebesgeschichte, erzählt  ■ von Jochen Wegner

„Mein Freund kommt so um sieben vorbei“, sagt Clarice und weist mit einem kurzen Nicken zu ihrem Schreibtisch, nicht zur Tür. Dann lächelt sie verschmitzt, und die geballten Wangen heben ihre Brille mit der mattschwarzen Fahrradfassung ein wenig an. „Ich brauch' jetzt erst mal Musik“, erklärt sie und weist mit einem weiteren Nicken zum Fernseher, nicht zur Stereoanlage. Manchmal macht Clarice seltsame Dinge.

Sie schaltet den Apparat an und seufzt: „Ich kann es kaum noch ohne ihn aushalten, gestern war's ganz schlimm. Da habe ich mich wieder den ganzen Abend bei 30 Leuten gleichzeitig ausgeheult.“ Manchmal sagt Clarice ganz im Ernst seltsame Dinge. Bei „Viva“ läuft „Pop in an oak“ von den „Rednex“. Die Moderatorin hat blonde Zöpfe. Es ist halb sechs.

Auch die Liebesbeziehung der 26jährigen Clarice, die in der Nähe von Stuttgart gerade ihr Diplom in Wirtschaftsinformatik macht, ist seltsam. Ihren 21jährigen Freund Zeno, der in Columbia, Missouri, Anthropologie studiert, hat sie bisher nur zweimal für wenige Tage gesehen. Dennoch können sich die beiden vorstellen zu heiraten. Übermorgen ist Clarice jedenfalls wieder mit Besuchen dran: Für drei Wochen fliegt sie in die USA. Sie will dort „irgendeinen Job“ finden, um bei Zeno sein zu können.

Zum ersten Mal trafen sich die offene, fröhliche Frau und der ruhige, verschlossene Mann am Abend in einer Kneipe. „Wir standen in diesem Pub und unterhielten uns geschlagene zehn Stunden, bis morgens um acht“, erinnert sich Clarice, während wir zur Ablenkung Milka-Ostereier aus der Schale auf dem Beistelltisch essen.

Danach war für Zeno klar, daß er die Frau seines Lebens getroffen hatte. Dabei hatte er Clarice die schicksalhaften zehn Stunden lang weder gesehen, noch hatte er ihre Stimme gehört. Selbst von der Kneipe waren lediglich einige Zeilen etwas kryptischer, englischer ASCII-Standardtext sichtbar.

Dies ist der beruehmte Avalon Pub. Setze und entspanne dich. Du kannst Essen und Getraenke zum sofortigen Verzehr bestellen, indem du „kaufe [Ding]“ eingibst... Der Ausgang liegt im Westen. Es gibt zwei Ausgänge: West und Ost. Ein klassisches Dartbrett.

Den Pub gab es nicht wirklich. Er ist Teil eines elektronischen Rollenspiels, eines „Multi-User- Dungeon“ (MUD), mit dem Namen „Nightfall“ auf einem Computer in Tübingen. Über andere Rechner im weltumspannenden Datennetz „Internet“ wählen sich täglich einige Dutzend Spieler in das System, um ihre künstlichen Charaktere stundenlang durch ein unüberschaubaures Labyrinth künstlicher Orte zu dirigieren und künstliche Abenteuer zu erleben. Manche freilich wollen nur Leute treffen, mit denen sie sich per Tastatur unterhalten können. So real wie für Clarice und Zeno wird es in den Hunderten von MUDs dieser Welt eher selten.

Immerhin: Viele der weltweit vielleicht fünfzig Millionen Nutzer von Datennetz-Diensten kommunizieren stur an allen wohlgepflegten Medien-Klischees vorbei. Zwischen den pickelgesichtigen, kontaktgestörten Fossilien der Computersteinzeit, neben den weltfremden Wissenschaftlern, unter den selbstbefleckenden Netzpornographen, an den coolen, unnahbaren Datensurfern vorbei gedeiht offensichtlich das zarte Pflänzchen wahrhaft menschlicher Kommunikation. Um es zu finden, muß man manchmal genauer hinschauen.

IRC-Server der Universitaet Stuttgart

NO fake users. NO bots on this server.

***Signon by Elektron detected

***Signon by Beppo detected

*Beppo* Na, Du? :)) wie geht's?

/join azc

***Clarice has joined channel azc

***Users on azc: 6Clarice

/mode +s

***Mode change “+s“ on channel “zc by Clarice

*Beppo* Schon nervoes wegen USA?

-‘ *Beppo* noe. kommt lilo_ auch noch heute? :-))))

In „Viva“ läuft „Cantaloop“ von „US 3“, der Moderator hat blonde, fettige Haare. Clarice sieht vom Computermonitor, der auf dem Schreibtisch ganz hinten in der kleinen Einliegerwohnung steht, immer mal wieder kurz auf die andere Mattscheibe, während die Tastatur längst eingeschliffene Rhythmen klappert. Es ist kurz nach 18 Uhr, der Gebührentakt der Telekom streckt sich für Verliebte jetzt fast bis zum Stillstand, bald will Zeno sie hier besuchen. Per Telefonmodem hat sie sich deshalb in ihren Hochschulrechner und von dort in den Stuttgarter „IRC-Server“ eingewählt.

Hier, im „Internet Relay Chat“ (IRC), ist Clarice jeden Abend, um ihre vielen Netz-Freunde zu treffen und vor allem Zeno. Auch im IRC unterhalten sich Menschen on line. Die verstreuten „IRC-Server“ tauschen über das „Internet“ alle eingetippten Nachrichten aus. Rund 8.000 Menschen plaudern, „chatten“, so ständig weltweit per Tastatur – um Chaos zu vermeiden in vielen separaten „channels“ mit wenigen Dutzend Teilnehmern. Jeder IRCler kann mit „/join“ einen neuen Kanal ins Leben rufen, andere dazu einladen oder ihn etwa mit „/mode +s“ als „secret“ einstufen, um ihn für Liebesgeflüster freizuhalten. Wie Clarice.

Zwei enge Freunde von Clarice, Beppo aus Duisburg und Elektron aus Darmstadt, sind schon da, ein Suchbefehl hat sie entdeckt. Clarice freut sich: „Die beiden kenne ich rl.“ Manchmal benutzt Clarice seltsame Wörter: Beppo und Elektron traf sie schon öfter bei „channel parties“, wo sich die IRCler ihres Lieblingskanals agermany“ „rl“ treffen, in „real life“. Alle tragen dann Buttons mit dem „nick“, dem selbstgewählten Spitznamen im IRC, um sich zu erkennen.

Auch „Clarice“ ist ein Kunstname, der einer Geschichte entstammt, die „Zeno“ irgendwann einmal für sich geschrieben hat. Sie beschreibt seine Idealfrau. Als ihm in „Nightfall“ dann eine „Clarisse“ vorgestellt wurde, horchte er auf. Als sich „Zeno“ mit „Clarisse“ unterhalten hatte, wußte er, daß sie „Clarice“ war. Als er nach sechs Stunden feststellte, daß sie in einem Dörfchen in Süddeutschland lebt, war es zu spät. Allein mit dem geschriebenen Wort versuchte er die eine, richtige Frau von seiner Liebe zu überzeugen. Telefoniert haben die beiden erst einen Monat später. „Ich glaube an Gott“, erklärt Zeno. Längst heißt „Clarisse“ nun „Clarice“.

„Mal sehen, wo Floh wieder rumidlet“, sagt Clarice, und eine neue Zeile fließt ins Netz, Clarice' Finger zucken kurz.

/whois floh floh

***Floh is floh6vector.sci.Uni- Siegen.DE

***Floh is away: desperately learning - *sigh*

***Floh has been idle 212 minutes

***signon by lilo_ detected

-‘ *lilo_* Hallo, da bist Du ja endlich =:-o

*mikey* Hallo! Na, wie lange noch? :-))

Mit „whois“ stellt Clarice den IRC- Status ihres Siegener Netzfreundes fest – floh ist zwar on line, hat sich aber zum Lernen lieber „away“ gemeldet. Sein Rechner hört die Gespräche mit, aber Floh hat seit über drei Stunden nichts mehr getippt. Er „idlet“. Wenigstens ist jetzt lilo_ gekommen. Die Freundin von Beppo wohnt in Clarice' Nähe. Auch diese beiden haben sich im Netz kennengelernt.

Daß tiefergehender Tastaturdialog möglich ist, der zu engen Freundschaften und verblüffend oft zu Beziehungen führt, fasziniert immer mehr Wissenschaftler, die verzückt dem völlig anonymen, jedes individuellen Merkmals beraubten und dennoch unglaublich persönlichen Informationsaustausch lauschen – die „emoticons“ oder „smileys“, meist kleine, um 90 Grad gedrehte, stilisierte Gesichter aus Textzeichen, mit denen Sätze verziert werden, um Stimmungen auszudrücken, sind nicht mehr als eine Kontext-Krücke. Trotzdem hat Clarice ein Smiley- Lexikon neben sich liegen.

Menschlichkeit überwindet Krücken: Der 50jährige Elektroniker Hartmut etwa hat schon öfter Jüngere bei Lebensproblemen per Netzpost begleitet. Informatikerin Petra freut sich, daß sie während eines „ziemlich bitteren Liebeskummers“ einen elektronischen Postfreund hatte, „dem ich alles erzählen konnte“. Ernsthafte Freundschaften seien per Computer „viel leichter, weil man nicht davon beeinflußt wird, wie der andere aussieht“.

Der niedrige Frauenanteil im Netz – im deutschsprachigen Raum liegt er bei vielleicht vier Prozent – hat indes eine kommunikative Konsequenz: Oft bleibt es nicht unkommentiert, wenn eine Userin ihr Geschlecht offenbart. „Erst mal nicht preisgeben“, rät Informatikerin Astrid, von Einladungen zum „Netsex“ entnervt, aber dank Netz und Vorsicht um 80 Bekannte und 20 gute Freunde reicher. Vielleicht sind die vielen Beziehungen, die inzwischen virtuell gestiftet werden, erste Zeichen dafür, daß der elektronische Männerstammtisch wackelt: „Ich habe meine letzten drei Boyfriends über Mailboxen kennengelernt“, erzählt Romanautorin Marianne. Die Bonner Studentin Mania hat sich, wegen der „Baggermails zu Semesterbeginn“ frustriert, in ihren Hamburger Freund trotzdem „durch intensiven Mailkontakt“ verliebt, Katharina und Daniel aus Norddeutschland gaben kürzlich im Forum „de.talk.romance“, wo sie sich im letzten Juli kennenlernten, feierlich ihre Hochzeit bekannt. Die befremdeten Reaktionen ihrer Freunde haben Katharina indes enttäuscht: „Viele betonten durch die Blume, ich hätte das doch nicht nötig gehabt. Als ob ich ein Kontaktgesuch in einer Zeitung aufgegeben hätte.“

Die Eltern von Clarice und Zeno sind hingegen begeistert. Clarice wurde in Missouri in die Arme geschlossen, nur die US- Grenzbehörde wollte ihr wegen der seltsamen Geschichte zuerst das Touristenvisum verweigern. „Mein Vater meinte“, erinnert sich Clarice, „daß man alle Möglichkeiten ausnutzen sollte, die man hat, um den richtigen Menschen kennenzulernen.“

Es ist 18.48 Uhr. Der Viva-Moderator hat schwarze Dreadlocks, es läuft „Conquest of paradise“ von „Vangelis“. Zur Ablenkung backen wir Nußwaffeln und idlen vor dem Bildschirm, wo die Diskussion auf agermany läuft.

***quplus has left channel agermany

***quplus has joined channel agermany

‚friedel‘ cake: . . . schabottnik

*Wiese knuddelt WOS

‚DerBeppo‘ susi: Ich bin essbar, hehe =:-]

*WOS reknuddelt Wiese

***signon by Zeno detected

‚Kuhl‘ Fred: abendhallo

‚susi‘ DerBeppo: Genau !!!!!!!! Hehe

‚Fred‘ Kuhl: reabendhallo

‚Storm‘ susi: Ich bin heut heiss wie ein Vulkan

lalaalala . . . tanze Samba mit mir!

Clarice hat die Zeile zuerst gesehen, gibt aber keinen Laut von sich. Manchmal reagiert Clarice seltsam.

***signon by Zeno detected

Da leuchtet auch schon die nächste Zeile auf.

*Zeno* smiles at you :-)

Zeno ist gekommen.

Alle Namen, nicks und Mailadressen wurden geändert. Mailadresse des Autors:

Jochen Wegner (Jochen.Wegner6wpk.gmd.de)