„Der materielle Schaden ist begrenzt, unermeßlich ist der immaterielle“

■ Im „Synagogen-Prozeß“ wurden die Angeklagten wegen Brandstiftung zu bis zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt

Schleswig (taz) – Wie ein roter Faden zog sich der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ durch die Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts Schleswig im Synagogen-Prozeß. Drei der vier Brandstifter, Stephan W. (25), Nico T. und Boris H.-M. (beide 20), atmeten sichtbar auf, als der Vorsitzende Richter des Zweiten Strafsenats, Hermann Ehrich, am Donnerstag Haftstrafen von viereinhalb Jahren sowie jeweils eine Jugendstrafe von drei Jahren und neun Monaten gegen sie verhängte. Nur wegen Brandstiftung, nicht, wie von der Bundesanwaltschaft gefordert, für fünffachen versuchten Mord, müssen sie hinter Gitter.

Der vierte Angeklagte, der 22jährige Dirk B., der eine Strafe von zweieinhalb Jahren wegen Beihilfe erhielt, war dagegen nach Angaben seiner Anwältin, die Freispruch gefordert hatte, „erschüttert“. Er konnte als einziger noch am selben Tag das Gefängnis verlassen, weil sein Haftbefehl wegen mangelnder Fluchtgefahr aufgehoben wurde. Günstigstenfalls muß Dirk B. nach elf Monaten in Untersuchungshaft nur noch einmal für vier Monate in den Knast.

„Es ist ein Strafurteil, mehr ist es nicht“, erklärte Ehrich am Ende seiner Urteilsbegründung. Niemand gebe sich der Illusion hin, daß mit dem Urteil das Problem des Rechtsradikalismus zu lösen sei: „Gesellschaftspolitische Ratschläge zu erteilen ist nicht unsere Aufgabe.“ Die wichtigste und schwierigste Aufgabe sei vor Gericht die Suche nach der Antwort auf die Frage gewesen, ob die Angeklagten gewußt haben könnten, daß das Gebäude bewohnt war. Fünf Menschen hatten sich in der Brandnacht zum 25. März 1994 in den Wohnungen über der Synagoge aufgehalten. Alle konnten sich unverletzt retten. Der Strafsenat, der 1993 die Mörder von Mölln zu Höchststrafen verurteilt hatte, beantwortete diese Frage mit Nein.

Aus dem Satz eines der Angeklagten, es sei ein normales Haus, den Schluß zu ziehen, daß es sich um ein bewohntes Gebäude handele, sei, „keine sehr sichere Grundlage für eine Verurteilung auf versuchten Mord“, meinte der Richter. Zumal dieser Angeklagte aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten nicht in der Lage gewesen sei, zu erklären, was er damit wirklich gemeint habe. Die Bundesanwaltschaft hatte auf diesen Satz den Vorwurf des versuchten Mordes gestützt.

Keinen Zweifel hatte der Senat daran, daß die drei Haupttäter aus einer rechtsradikalen und antisemitischen Gewaltbereitschaft die Lübecker Synagoge angezündet haben. Der erste Brandanschlag auf eine Synagoge in Deutschland nach der Nazizeit habe außerordentliches Gewicht, sagte Ehrich. „Der materielle Schaden ist begrenzt, unermeßlich ist der immaterielle Schaden.“ Die Erinnerung an die „Reichskristallnacht“ und Angst seien geweckt worden, meinte Ehrich. „Der antisemitische Charakter ihrer Gewalttat bestimmte das Ziel.“

Es sei eine schwere Aufgabe, den Ausgleich zwischen dem Gewicht der Tat und der persönlichen Schuld in einem Strafmaß zu finden, das vor dem Gesetz und dem Gerechtigkeitsempfinden Bestand habe, meinte Ehrich. Denn auf der anderen Seite standen die mitleiderregenden Lebensläufe der Täter, die der Senat neben verminderter Schuldfähigkeit bei der Strafzumessung berücksichtigte. Gutachter hatten die drei Angeklagten, die in kaputten Elternhäusern aufwuchsen, keine Schulabschlüsse, keine Arbeit und als Trost nur den Alkohol hatten, als Menschen beschrieben, die nach dem Motto „Haßt du was, dann bist du was“ handelten.

Ein Sozialarbeiter hatte bereits vor dem Urteil eine bittere Bilanz gezogen: Das Verfahren habe rechtsradikalen Wirrköpfen in Lübeck nicht den erhofften Dämpfer versetzt, sondern sie eher noch ermutigt, es den Angeklagten gleichzutun. „Was auf Normalbürger abschreckend wirkt, stimuliert diese Jugendlichen noch.“ Kersten Kampe