Ort der Schreibtischtäter

■ Serie: Die letzten Tage des Krieges (Teil 4) / Im wirtschaftlichen Kraftzentrum der SS, dem Wirtschaftsverwaltungshauptamt in Steglitz, sitzen heute wieder Beamte

Berlin (taz) – Ernst-Günter Schenck war Arzt, Wissenschaftler und einer der vielen, die ihre Arbeit in den Dienst des Dritten Reichs gestellt hatten. Als „Ernährungsinspekteur“ und „Inspekteur für Truppenverpflegung und -ernährung“ war er vom Heer zur Waffen-SS abkommandiert worden und bezog mit seiner Abteilung einige Büros im SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt in Steglitz Unter den Eichen. Von hier aus lieferte sein Büro wissenschaftliche Erkenntnisse über die „geeigneteste Soldatenkost im Felde“ und forschte an neuen Nahrungsmitteln, die die Ernährung von Truppen und Volk sicherstellen sollten. Eine „Konzentrat- Nahrung“ wurde zusammengestellt, die, aus der Luft abgeworfen, die eingekesselten Truppen in Stalingrad ernähren sollte. Er experimentierte mit Nährhefe, entwickelte eine „Wurst“, die aus dem Myzel eines Schimmelpilzes bestand und entdeckte schließlich die Rapskuchen als Eiweißträger für die menschliche Ernährung.

Das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt, eine Mischung aus Behörde und Großkonzern, war das wirtschaftliche Kraftzentrum der SS und eine wichtige Schaltstelle des Staatsapparates. Geleitet von Oswald Pohl, erledigten seine fünf Ämter das, was die SS zu ihrer Existenz brauchte: Versorgung und Ausrüstung der Waffen-SS, die Verwaltung der SS-eigenen Betriebe, die Aufsicht über die Konzentrationslager und Baumaßnahmen. Wer Arbeitskräfte brauchte, richtete seine Anfrage an das Wirtschaftsverwaltungshauptamt und bekam gegen eine „Leihgebühr“ KZ-Häftlinge zugestellt. Die „Vernichtung durch Arbeit“ wurde von hier aus organisiert. Gegen Ende des Krieges hatte die riesige Behörde 1.700 Mitarbeiter. Im Blumenviertel, schräg gegenüber dem Botanischen Garten, rechneten seine Angestellten auf Pfennigbeträge genau aus, welcher „Erlös aus rationeller Verwertung der Leichen abzüglich Verbrennungskosten“ zu ziehen ist.

Als die Rote Armee am 26. April in Steglitz eintraf, fand sie das Gebäude leer. Dem Geheimbefehl „Clausewitz“ folgend, hatten Ministerien und Parteibehörden kurz vorher ihre Sachen gepackt und verließen das sinkende Schiff. Ernst-Günter Schenck beschrieb die Auflösung. „Auf den Fluren und Gängen des trotz aller Zerstörung noch weitläufigen Häuserkonglomerats herrschte Unruhe wie in einem Bienenstock vor dem Ausflug der alten Königin.“ In seinem Büro waren Mitarbeiter dabei, Aktenordner aus den Regalen zu zerren und aus dem Fenster zu werfen. „Ich sah hinaus. Nicht allein meine Leute waren mit der Beseitigung der Akten beschäftigt; aus 30 oder 40 Fenstern flogen sie ebenfalls in hohem Bogen hinaus.“ Im Hof war man dabei, die Papiere in einem qualmenden Ölfeuer zu verbrennen. „Gute Fahrt, geheime Reichssache, war man versucht nachzurufen“, schreibt Schenck in seinen Erinnerungen. Um 16 Uhr war die Spurenbeseitigung beendet. Bei Nieselregen setzte sich die Autokolonne der hohen Funktionäre in Bewegung. „Die Wagen wurden angelassen, der Lärm der Motoren staute sich im Häusergeviert. Was bisher verborgen war, wurde zum öffentlichen Ereignis. Berlin wurde verlassen. Hinter den letzten Wagen wurde das Tor geschlossen und verriegelt. Den Verbliebenen bemächtigte sich Ratlosigkeit und Niedergeschlagenheit. Seelisch entleert blieben sie wie eine Herde ohne Leittier auf dem Hofe zusammen, dessen Erde zu Morast zertreten und zerfahren war.“ Ernst-Günter Schenck hatte sich entschlossen, in Berlin zu bleiben, um die Ernährung der Bevölkerung zu organisieren. Zusammen mit seinem Adjutanten blieb er in dem riesigen Gebäude zurück. Wenige Tage später wurden die beiden in die Reichskanzlei beordert, um dessen „Verproviantierung“ und die Versorgung des Stadtzentrums zu übernehmen.

Würde Ernst-Günter Schenck oder ein ehemaliger Soldat der Roten Armee heute Unter den Eichen vorbeikommen, sie hätten keine Mühe, das Gebäude wiederzuerkennen. Obwohl durch Bomben stark beschädigt, wurde es nach Kriegsende im original NS- Stil wiederaufgebaut. Seit 30 Jahren ist im Herzstück des Gebäudes das Bauamt II untergebracht und verwaltet Liegenschaften des Bundes. In den sich anschließenden Häusern wohnen Menschen. Wer wissen will, wer früher in diesen Gebäuden ein und aus ging, hat keine Schwierigkeiten dies zu erfahren. „Hier war die SS drinjewesen“, kann der Pförtner Auskunft geben. Wer es genauer wissen will, schaut auf die Gedenktafel, die am Eingang hängt. Kerstin Schweizer

wird fortgesetzt