■ Überlegungen zur türkisch-kurdischen Tragödie
: Deutschland im Krieg?

„Wenn Deutschland den Krieg in Kurdistan zu beenden versucht, wird auch der Krieg in Deutschland enden.“ Das sagte der Sprecher des politischen Flügels der PKK, Ali Sapan, vergangene Woche während der Gründung eines Kurden-Parlaments in Den Haag. Zur Jahreswende 1993/94 hatte dies ein anderer Sprecher im Stern ähnlich formuliert: „...der Tourismus ist für uns ein ernsthaftes Angriffsziel... niemand sollte in die Türkei reisen. Wir können für das Leben auch der Deutschen nicht garantieren.“ Damals Antalya, heute Köln? Gibt es ihn, diesen „Krieg in Deutschland“? Er war ja eine der Begründungen für das Verbot der PKK, das viele als problematische Verschärfung des Konflikts empfanden.

Das zweite zentrale Signal aus Den Haag: Kurdische Oppositionelle, die sich weigerten, Delegierte zu schicken, wurden als „Verräter“ bezeichnet. Das Verratssyndrom gehört zum innersten und gefährlichsten Kern aller Kriege: „Wenn ihr euch uns nicht anschließt, behandeln wir euch als Verräter.“

Seit Wochen werden in Deutschland Einrichtungen türkischer Bürger durch Brandsätze beschädigt. Sie werden als Türken verfolgt, weil sie die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Türken pflegen. Was haben sie mit dem Krieg in den kurdischen Dörfern zu tun? Auch Zehntausende Türken kurdischer Abstammung buchen ihre Billigflüge in den gefährdeten Reisebüros und kaufen in türkischen Läden.

Ali Sapan hat sich zur Mitverantwortung bekannt. Es ist dringend, daß wir uns klar und deutlich verständigen über das, was er „Krieg in Deutschland“ nennt. Dazu einige Überlegungen.

1. Der türkischen Führung scheint die Chance zur politischen Lösung der Kurdentragödie vollständig entglitten. Sie hat Hunderte von Dörfern in den Bergen zerstört, sie hat mit militärischem Zwang „umgesiedelt“. Sie hat einen Angriff über die Nato-Grenze unter Nutzung des besonders aus Deutschland importierten Waffenpotentials geführt. Die Verurteilung von Washington bis Bonn ist eindeutig.

2. Die PKK hat ihren Krieg mit massivem Terror begleitet. Sie hat die Sicherheitszone ihrer kurdischen Brüder im Irak (gegen deren Willen) für ihre militärischen Aktionen genutzt. Sie terrorisiert, ja liquidiert kurdische Türken, die sich ihr – aus Angst oder aus Überzeugung – nicht anschließen wollen. Sie beansprucht weltweit den Vertretungsanspruch für kurdische Interessen.

3. Viele, die mit den Opfern dieser Tragödie solidarisch sind, vor allem in Deutschland, verlangen von Bonn, sich sehr viel massiver in die Angelegenheiten der Türkei einzumischen. Freunde der Kurden vermitteln oft den Eindruck, daß die Türkei sofort kusche, wenn der Westen dies nur wolle. (Ich kenne kein Land und keinen Konflikt, in den wir Abgeordnete aus Bund und Ländern uns intensiver und fordernder eingemischt hätten als in diesen.)

4. Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist etwas in der Geschichte völlig Neues. Niemals zuvor gab es über eine solche Entfernung hinweg eine so massive, friedliche, freiwillige Einwanderung (fast zwei Millionen), und niemals zuvor gab es eine so tagtägliche Bindung an beide Heimaten; Tausende von Reisenden, die Woche um Woche zu Besuch nach Hause in die Türkei fahren und Woche um Woche aus der Türkei wieder zu uns nach Hause anreisen. Wer meint, man könne die engen realen Bindungen zwischen beiden Ländern per Knopfdruck einfrieren, irrt.

5. Was aber geschieht, wenn aus dem Krieg in den Bergen der Brand in den Städten wird? Wenn auch zynisch, so doch realistisch hat der PKK-Führer Öcalan die Großstädte der Westtürkei als „Heuhaufen, den ich noch nicht angezündet habe“, beschrieben. Was soll das heißen? Überlegt der PKK-Chef ernsthaft, den Terror auf Ankara und Istanbul auszuweiten und damit Millionen von Türken kurdischer Herkunft zu gefährden? Und was, wenn der Terror gegen türkische Läden in Deutschland türkischen Terror gegen Geschäfte von Bürgern kurdischer Herkunft in der Türkei provoziert? Die Explosion von modernen Millionenstädten?

6. Die Türkei hat versucht, einen Staat aufzubauen, der nicht auf Abstammung, sondern auf Abstimmung beruht. Dieser Staat Kemal Atatürks wollte die Frage nach der Herkunft auslöschen. Wahlrecht statt Ahnenpaß. Nur so, glaubte der Gründer, könne sein moderner Staat geschaffen werden. Dieses Konzept war dem der nachrevolutionären Französischen Republik nachgeträumt. Der Türkei-Experte Udo Steinbach, der noch in den achtziger Jahren die türkische Verfassung als eine „der freiheitlichsten der Welt“ bezeichnet hatte, hält dieses Konzept heute für gescheitert.1 Es ist das Europas: Abstimmung statt Abstammung.

Die Türkei hat sich mit diesem Gründungsauftrag in eine geradezu kafkaeske Staats- und Sicherheitsneurose mit einem absurden Staatssicherheitsrecht hineingetrieben. Schon die Diskussion über Minderheitenrechte und kulturelle Eigenarten wird als „Separatismus“ verfolgt und verurteilt. Wo jede Diskussion verboten wird, läßt die Gewalt nicht auf sich warten. Die dringende Verfassungsreform muß mit dieser Absurdität Schluß machen.

7. In der Türkei sind „mindestens 47 verschiedene ethnisch, sprachlich und religiös differenzierbare Gruppen sowie weitere Untergruppen mit empirischen Mitteln feststellbar“, sagt Christian Rumpf vom Heidelberger Max-Planck-Institut. Selten in der Geschichte war so kompromißlos versucht worden, aus einer großen Zahl der verschiedensten Minderheiten eine einheitliche Staatsgesellschaft zu schmieden. Für manche überheblichen Türken oft ein Vorwand zur Verachtung der anderen, insbesondere der Kurden. In Deutschland hat sich die Solidarität mit den verfolgten kurdischen Bürgern der Türkei verwandelt in die Solidarität mit den völkisch-politischen Sehnsüchtigen und Hoffnungen einer politischen Bewegung. Wo fängt völkische Solidarität an, wo hört sie auf?

8. Sollen wir mit unserer Solidarität ausgerechnet den Abstammungsgedanken von der türkischen Demokratie einfordern, gegen den wir in Deutschland gerade durch Reform der Staatsbürgerschaft angehen wollen? Solidarität mit den Opfern! Das heißt nicht Solidarität mit völkischen Zielen, die das Ende jeder modernen Staatsidee für die Türkei bedeuten würden. Viele Kritiker meinen, dieses Ende sei längst da, so die kurdische Autorin Shimal Ferashin mit ihrem engagierten Aufsatz: „Die Türkei, ein Land ohne Zukunft“.2 Wer aber kann verantworten, mitgewirkt zu haben, daß ethnisch, religiös und kulturell zersplitterte Gebilde Jahrzehnte des Krieges bedeuten?

Solidarität muß den Opfern des Konflikts gelten. Im Bundestag und im Parlament der OSZE engagiere ich mich dafür, daß die Prinzipien des modernen Minderheitenschutzes Verfassungsrang bekommen. In Europa und im Nahen Osten. Das aber heißt: Schutz von Minderheiten und Schutz vor Minderheiten! Was meinen soll: Wer nicht wieder Kurde sein möchte, sondern einfach Staatsbürger, muß das Recht einklagen können, nicht als Verräter verfolgt, sondern als Bürger geschützt zu werden. Das geht nur im nichtvölkischen Staat, der sich aus der Aufklärung der Gegenwart und nicht aus der Verklärung der Vergangenheit definiert. Kein Krieg also in Deutschland, sondern Solidarität mit den Opfern eines Konfliktes, den die Türkei selber lösen muß. Freimut Duve

Der Autor ist MdB und sitzt für die SPD im Auswärtigen Ausschuß

1 Udo Steinbach: „Wie gültig ist Atatürks Erbe“, aus: „Atatürk in deutscher Sicht“, 1988

2 Shimal Ferashin, „Die Türkei, ein Land ohne Zukunft“, in: „Kurdistan heute“, Dezember 1994