■ Zur „Initiative 8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen“
: Auch die Unfähigkeit zu trauern ist unteilbar

Die „Initiative 8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen“ fußt auf der Behauptung, es werde bei der Erinnerung an diesen Tag aus Anlaß seiner 50. Wiederkehr 1995 das deutsche Leid vergessen. Das ist nicht nur ein Vorwand, um abermals öffentlich für ein rückwärts gewandtes Geschichtsbild zu werben, sondern auch eine paradoxe Konstruktion, deren politische Ingenieure wie kaum jemand sonst im Glashaus ihres eigenen Vorwurfs zu besichtigen sind. Verkörpern doch gerade die Rechtsaußenkreise des deutschen Konservatismus selbst mit ihrer seit einem halben Jahrhundert geradezu gebetsmühlenhaft einseitigen Beklagung deutschen Leids genau jene Haltung, die ihre spiegelfechterische „Initiative“ nun anderen vorwirft, nämlich ein wohlsortiertes, bis heute zäh durchgehaltenes und alle historischen Zusammenhänge verschweigendes „Vergessen“.

Die Archive ihres Print-Imperiums machen den Nachweis solcher Defizite leicht: die Unterschlagung der Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung, ihrer Chronologie und ihrer Kausalitäten, ist notorisch!

„Vergessen“ darin, daß mit der Machtübernahme Hitlers vom 30. Januar 1933 auf deutschem Boden ein sofort erkennbar kriminelles, wenngleich bald schon von der Mehrheit unterstütztes Regime entstanden war, das unverzüglich alle demokratischen Freiheiten und Menschenrechte außer Kraft setzte und politische Gegner in Konzentrationslager sperrte, mißhandelte und tötete; „vergessen“, daß sogleich antisemitische Rassengesetze erlassen wurden, die Hunderttausende irreführenderweise „Emigranten“ genannte jüdische Bürger zu den ersten deutschen Vertriebenen machten; „vergessen“, daß fieberhaft aufgerüstet und zunächst durch militärische Drohungen nachbarliches Territorium annektiert wurde, ehe dieses „Großdeutschland“ dann einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune brach, der fast sechs Jahre dauern und Europa in Trümmer legen wird.

Die „Initiative“ rennt zudem offene Türen ein. Denn selbstverständlich gehören alle Verbrechen an die Öffentlichkeit – sowohl die von Deutschen wie die an Deutschen. Aber dies nicht in einem Ungeist, der die eindeutig für jeden Zivil- und Militärtoten des Zweiten Weltkrieges Primärverantwortlichen so bewußt ausschaltet, wie es hier geschieht: Hitler und seine Anhänger! Dieser Exkulpierungsversuch durch die Hintertür des sattsam bekannten „Die anderen haben auch Verbrechen begangen“ ist das eigentliche Stigma der „Initiative 8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen“.

Noch einmal und unmißverständlich: alle Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen müssen an die Öffentlichkeit – ja! Aber welch grausame Indolenz liegt denn einer Gesinnung zugrunde, die wenig oder gar kein Wort über die Leiden anderer Völker unter der Naziherrschaft verliert, von ihnen aber eine möglichst pflegliche Behandlung Deutscher fordert, nachdem diese Herrschaft um den Preis von 50 Millionen Toten gebrochen werden konnte?

Eben das ist das Unheimliche an dem Aufruf: daß sich hier abermals und in komprimiertester Form eine geradezu zwanghafte Relativierung der NS-Verbrechen widerspiegelt, ohne daß deren Kenntnis oder auch nur das Bedürfnis danach sichtbar wird.

Sind die Autoren und Unterzeichner dieser fehlgewichteten „Initiative“ jemals den Spuren der vier sogenannten „Einsatzgruppen“ und den präzis nach Berlin vermeldeten Millionen-Opfer-Ziffern ihrer mobilen Mordkommandos hinter den deutschen Fronten nachgegangen? Hat sich auch nur einer von ihnen jemals vertieft in die Ausrottungs- und Versklavungsorgie des „Generalplans Ost“? Hat der federführende Alfred Dregger, der die Rückzüge des deutschen Angriffkrieges notorisch in einen gerechten Verteidigungskrieg umzufunktionieren versucht, je auch nur die geringste Mühe darauf verwendet, Einblick zu nehmen in die überbordende Dokumentation von Verbrechen der Wehrmacht in den Weiten Rußlands, der Ukraine, des Baltikums und auf dem Balkan? Hat dieser hartgesottene Nationalkonservative auch nur eine einzige schlaflose Nacht gehabt, weil sich unter den nahezu summarisch davongekommenen NS-Tätern auch die „Bauherren“ von Auschwitz befanden, die hohen und höchsten Hierarchen des Verwaltungsmassakers unter dem Dach des „Reichssicherheitshauptamtes“? Oder hat auch nur einer der Verfasser und der Unterzeichner der „Initiative“ jemals Notiz genommen von den auf den Millimeter genau berechneten Reißbrettentwürfen der Erfurter Firma Topf & Söhne für Menschenverbrennungsstätten in Form von Hochöfen zur Einäscherung jener Leichengebirge, die nach dem „Endsieg“ erwartet wurden? Und hat diese Rechte je Gedanken zum Ausdruck gebracht, was der bedeutet hätte?

Es ist die Verweigerung, die den Tenor der „Initiative 8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen“ prägt, und damit das alte Verdrängungsargument „Wir haben von nichts gewußt“ in seine neue Variante „Wir wissen noch immer von nichts“ verlängert. Denn wer Auschwitz kennt, und alles, was der Name materialisiert und symbolisiert, der würde auch die äußersten Folgen und Reaktionen auf das nazistische Morduniversum nicht mit ihm selbst vergleichen, gleichsetzen oder in einem Atemzug nennen. Hüten wir uns vor Stimmen, deren Klage um die Toten anheben will, als mit dem Jahr 1945 der Bumerang der Gewalt spät auf den zurückschlug, der ihn 1939 ausgesandt hatte.

Der Aufruf vergießt ohnehin nur Krokodilstränen. Denn wer nicht die geringste innere Beziehung zur Welt der NS- Opfer hat, den rührt in Wahrheit das Schicksal von Landsleuten genauso wenig – denn auch die Unfähigkeit zu trauern ist unteilbar... Krampfhaft auch die Suggerierung, hier äußere sich die „selbstbewußte Nation“. Nichts sagt mehr über den gefährlichen Minderwertigkeitskomplex jener deutschen Rechten aus als dieses verräterische Etikett.

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Tatsächlich bestätigt die „Initiative 8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen“ überzeugend das Krebsgeschwür eines demokratiefernen, durch und durch reaktionären Geschichtsrevisionismus auch noch im Deutschland des ausgehenden Jahrhunderts. Die Liste der Unterzeichner deutet auf Metastasen in nachgewachsenen Generationen hin. Die innen- und außenpolitische Gefährlichkeit dieser Rechtskreise ergibt sich, wie die Liste der Signaturen zeigt, aus ihrer Integration in Parteien, Staatsapparat und Wirtschaft. Längst kann deshalb von „Wehret den Anfängen“ keine Rede mehr sein. Hier waltet vielmehr eine Kraft, die ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus nie ins reine gebracht hat, und damit ihre immer wieder bekundete Abscheu gegenüber fremden Gewaltsystemen, allen voran dem sowjetischen, nicht auf das eigene, nationale Verbrecherregime ausweiten konnte. Deshalb auch so deplaziert in der Schrift die alibihafte Floskel von der „nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“ – von da bis zu den Jakobinern der Jahre 1793/94 ist es für solches Geschichtsverständnis nicht mehr weit ...

Fazit? Am Ende sind die so lautstark beschworenen deutschen Opfer fremder Gewalt doch wieder nichts als bloße Aufrechnungsmasse jener entseelten Totenarithmetik, mit der die revisionistischen Geschichts„korrektoren“ einen Leichenberg an einen anderen zu halten gewohnt sind. Daß das eine fürchterliche Degradierung, ja, ein unüberbietbar perverser Umgang mit den eigenen Toten ist – das wird wohl auf immer all denen verschlossen bleiben, die sich der trauernden Freude, des unglaublichen Glücksgefühls und der befreiten Genugtuung einer ganzen Menschheit über das historische Ende des Nationalsozialismus vor 50 Jahren so sichtbar versperren wie die Verfasser und Unterzeichner der „Initiative 8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen“. Ralph Giordano

Zum Thema siehe auch das Interview mit dem Erstunterzeichner Erwin K. Scheuch vom 13.4. und Richard Herzingers Debattenbeitrag vom 15.4. auf dieser Seite