Nach langer Flucht gestrandet

Flüchtlinge aus Türkisch-Kurdistan bangen im Nordirak vor der türkischen Militäroffensive / Niemand glaubt, daß die Menschen bald in ihre Heimat zurückkehren können  ■ Aus Atrush Christina Karrer

Seit ein paar Monaten ist die einst grüne Ebene vor Atrush ganz weiß. Was aus der Ferne wie eine gigantische Herde Schafe aussieht, entpuppt sich von nahem als eine Ansammlung von Hunderten dicht aneinandergedrängten Zelten. Die 13.000 Frauen, Männer und Kinder, die in dieser abgelegenen Gegend strandeten, sind KurdInnen aus der Südosttürkei, die im Laufe des letzten Jahres aus ihren Dörfern und Städten in den Nordirak geflohen sind.

Fast alle kamen zu Fuß, wie jener Mann aus Diyarbakir, der mit Frau, fünf Kindern und einem Esel zehn Tage lang durch die Türkei wanderte, die hohen türkisch-irakischen Grenzberge überwand, sich immer wieder vor dem türkischen Militär verstecken mußte, bis er schließlich im Tal von Sheranesh nordöstlich von Sacho anlangte. Dort waren schon Menschen aus Shirnak, Ulludere, Siloopi, Cizre, von überall aus der Südosttürkei, geflohen vor der türkischen Armee, die ihre Dörfer in Brand gesteckt hatte.

Als die Flüchtlinge nicht mehr übersehen werden konnten, begannen einige ausländische Organisationen im Nordirak, diese mit Nahrungsmitteln, Decken und Medikamenten zu versorgen. Gleichzeitig versuchten sie die KurdInnen zu überzeugen, weiter südlich zu campieren. Das UN- Flüchtlingswerk UNHCR suchte mit den irakisch-kurdischen Behörden einen geeigneten Ort, an dem die türkischen KurdInnen dauerhaft bleiben können, ein Gebiet also, das unbewohnt war, fruchtbar, mit ausreichender Wasserversorgung und geeignet für Viehhaltung. Ausgewählt wurde schließlich die Gegend bei Atrush, da sie außerhalb der 40-Kilometer- Zone liegt, also nicht so leicht den Angriffen der türkischen Luftwaffe ausgesetzt ist. Doch die Flüchtlinge weigerten sich. Die Verwandten, die noch kommen wollten, würden sie dort nicht finden, so ihre Befürchtung.

Nach diversen Angriffen türkischer Armeehubschrauber jedoch und nachdem eine Organisation ihre medizinische Hilfe eingestellt hatte, weil sie von der türkischen Armee beschossen worden war, zogen die Flüchtlinge auf einen Acker östlich von Sacho – und weigerten sich abermals, noch weiter zu gehen, bis das UNHCR sie schließlich vor die Wahl stellte, entweder nach Atrush umzusiedeln oder auf weitere Hilfe zu verzichten. Noch bevor der erste Schnee fiel, wurden alle Flüchtlinge nach Atrush umgesiedelt, in die Lager A und B.

Auch dort aber fühlen sie sich seit Beginn der türkischen Militäroffensive nicht sicher. Obwohl der türkische Vertreter dem UNHCR in Genf versicherte, den Flüchtlingen werde nichts geschehen, sind die UNHCR-MitarbeiterInnen in ständiger Alarmbereitschaft. Die Flüchtlinge selbst haben UN- Schutz verlangt und etliche Schützengräben in der Nähe der Zelte ausgehoben, in denen sie sich im Falle eines Luftangriffes verstecken könnten. „Wir leben hier alle in ständiger Angst“, erklärt ein Mitglied des Lagerkomitees. Wenn die Kinder ein Flugzeug sehen, beginnen sie sofort zu schreien.

Seit türkische Journalisten, die die Lager in Atrush besucht haben, in ihren Zeitungen schrieben, es handele sich um PKK-Lager, hat sich die Situation in Atrush verschärft. Wer vorher ohne weiteres in die Lager fahren konnte, muß jetzt am Checkpoint der irakischen Kurden die Papiere vorzeigen – und am Checkpoint der türkischen Kurden muß er beweisen, kein türkischer Staatsbürger zu sein. Nur noch ausländische Journalisten werden hineingelassen, meint der Verantwortliche des Lagers.

Mit Wasserrohren normalisiert sich der Alltag

„Hier sind alle zwischen fünf und neunzig Jahren PKK-Anhänger“, erklärt der Lagerbetreuer. „Die PKK kämpft schließlich für unsere Sache. Aber in beiden Lagern befinden sich weder Waffen noch Mitglieder kämpfender Einheiten.“ Stolz erzählt er, wie KurdInnen in Den Haag vergangene Woche das Exilparlament eröffnet haben. Sie, die Menschen in Atrush, hätten an jenem Abend gefeiert.

Der Alltag in den Lagern stabilisiert sich, trotz der Bedrohung durch türkische Luftangriffe. Eine ausländische Organisation ist dabei, Wasserrohre zu verlegen, etliche Toiletten sind aus Blocksteinen errichtet und mit Wellblechtüren versehen worden. Die Kinder im schulpflichtigen Alter befinden sich während vier Stunden pro Tag in einem der zahlreichen Doppelzelte. Dort sitzen sie zusammengezwängt auf wackeligen Bänken und lernen im schummrigen Licht Lesen, Schreiben und Rechnen. Der Unterricht ist kurdisch.

Im Schummerlicht Unterricht auf Kurdisch

Damit die Kinder die türkische Sprache nicht verlernten, meint der 27jährige Lehrer aus Cizre mit leicht ironischem Unterton, gebe es allerdings auch einmal in der Woche eine Stunde lang türkisch- sprachigen Unterricht.

In ein paar Monaten sollen die Zelte einfachen Häusern weichen. Das UNHCR will in wenigen Wochen mit dem Bau von 3.000 Häusern beginnen, für insgesamt 2.458 Familien. Jede Famile bekommt ein Einzimmerhaus mit Bad und Küche. Alles weitere ist offen, meint UNHCR-Mitarbeiter John Andrew, der schon mehr als zehn Lager betreut hat. „Da es nicht so aussieht, daß diese Menschen bald in ihre angestammten Dörfer zurückkehren können, werden wir später Projekte initiieren, die ihnen Arbeit und Einkommen verschaffen“, erklärt er. Vorerst seien sie aber in der Emergency-Phase. Wenn die Häuser erst einmal stünden, werde weitergeschaut.