Schuften in der Waffenschmiede

■ Serie: die letzten Tage des Krieges (Teil 5) / Wo man sich heute in Neukölln erholt und Fußball spielt, standen früher Baracken des KZ-Außenlagers Sachsenhausen

Berlin (taz) – An diesem Sonntagnachmittag ist kaum jemand auf der Straße. Der Himmel ist farblos, trostlos. Wie diese Gegend im nördlichen Neukölln. Ein betrunkener Mann ist der einzige Mensch auf dem Gehsteig. Hier, an der Sonnenallee, Höhe Thiemannstraße, gibt es nicht einmal mehr eine Dönerbude. In das Autorauschen der Sonnenallee tönt eine Trillerpfeife. Der Mann horcht auf und geht dem Trällern nach. Es kommt von einem Fußballspiel. Sonnenallee 181 ist das Terrain des 1. FC Neukölln. Hier wird gespielt, an diesem Sonntagnachmittag gegen den SV Yesilyurt. Doch auch eine Fußballmannschaft füllt einen leeren Stadtteil nicht. Das wenige Publikum scheint nur aus weiblichem Anhang und den treuesten Kumpels zu bestehen. Neben dem Spielfeld ist das Erdreich aufgerissen und zu Lehmbergen zusammengeschoben. Der FC Neukölln baut ein neues Clubhaus. Hier endet auch schon der Stacheldrahtzaun des Fußballplatzes, und ein neuer beginnt. Ohne Stacheln und grün. Es ist der der Kleingartenkolonie „Kühler Grund“, Sonnenallee 187. „Betreten auf eigene Gefahr. Rollern und Radfahren verboten. Leinenzwang für Hunde“ wird der Besucher begrüßt. Das Tor ist sowieso abgeschlossen. Hinter Fußballplatz und Kleingartenkolonie beginnt ein Industriegebiet.

Man kann an der Sonnenallee 181-187 aber nicht nur Neuköllner Öde besichtigen, sondern auch ein Denkmal. Es erinnert an das Außenlager des KZ Sachsenhausen, das sich hier befand. 1920 kaufte der US-Konzern NCR (National Cash Register) dieses Gelände zwischen Werrastraße und Sonnenallee und errichtete eine moderne Industrieanlage mit einem hochwertigen Maschinenpark. Durch die Weltwirtschaftkrise gebeutelt, fusionierte das Unternehmen Anfang der dreißiger Jahre mit der Krupp-Registrierkassen- Gesellschaft. Der Zweite Weltkrieg veränderte Produktpalette und Arbeiterschaft. Statt Registrierkassen verließen Zünder und Maschinengewehre die Fabrik. Der Arbeitskräftemangel sollte durch Zwangsarbeiterinnen ausgeglichen werden. Für deren Unterkunft entstanden auf dem Gebiet der heutigen Kleingartenkolonie fünf Baracken. Auf dem jetzigen Fußballplatz war das Wachpersonal untergebracht. Im September 1944 wurde das Lager an das Konzentrationslager Sachsenhausen angegliedert. Etwa 500 jüdische Polinnen bezogen die Baracken. Es waren die einzigen Überlebenden aus dem Ghetto von Lodz. In zwölfstündigen Schichten arbeiteten sie in dem Rüstungsbetrieb. „Ich arbeitete in der Galvanisierung und tunkte heiße Eisenteile in kaltes Wasser. Die Funken flogen mir in die Augen und verbrannten meine Hände. Es war schrecklich“, berichtet eine Überlebende. Dann trafen Anfang 1945 Bomben der Alliierten die Baracken und zerstörten sie. Die Fabrik selber wurde nicht bombardiert. „Da haben sie gerade mal auf die Ecke, mal so aus Versehen, eine fallen lassen“, erzählt ein ehemaliger Arbeiter. „Aber wir sind ja gar nicht mehr zum Arbeiten gekommen. Zum Schluß haben wir bloß noch jeden Tag Fensterscheiben repariert und Splitter zusammengekratzt.“

Am 18. April 1945 wurde das Lager aufgelöst, die Häftlingskartei verbrannt – die Spuren wurden verwischt. In einem Zug brachten SS-Leute die Frauen in das Konzentrationslager Ravensbrück. Sie hätten, wie die meisten anderen Häftlinge des Lagers auch, an dem Todesmarsch teilnehmen müssen, der verhindern sollte, daß die Gefangenen von der näherrückenden Roten Armee befreit würden. Kurz vor Ende des Krieges hatte das Schwedische Rote Kreuz unter der Leitung von Graf Bernadotte erreicht, daß ein Transport von rund 4.000 Frauen Ravensbrück in Richtung Schweden verlassen konnte. Unter ihnen waren fast alle Frauen aus Neukölln.

Die Fabrikgebäude stehen heute noch. In den schönen weißen Klinkersteinhäusern produzierte die NCR noch bis in die 60er Jahre. Dann wurde verkauft. Heute wehen dort blaue Quelle-Fahnen und stehen dort ebenfalls blaue Auer- Schilder. Wer an dem Fußballplatz und der Kleingartenkolonie vorbeigeht, löst durch eine Lichtschranke eine Diaprojektion aus.

Eine Schrift erscheint in den Baumkronen, unleserlich. Sie wandert über den Stacheldraht und den grünen Maschenzaun und fällt schließlich auf den Gehweg. Hier ist zu lesen: „Von 1944-1945 befand sich hier ein Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen“. Kerstin Schweizer

Wird fortgesetzt