Auf der Schattenseite des Lebens

Im hintersten Eck des Londoner Ostens, unter der Hochbahnstation Shadwell, sind die dreißiger Jahre mit ihren Straßenkämpfen zwischen Demokraten und englischen Faschisten noch lebendig  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Der moderne Fahrstuhl mit seinen automatischen Türen, in denen sich die Sonne spiegelt, paßt nicht so recht zu dem alten Brückenbogen, in den er eingebaut ist. Der Lift führt vom Bahnsteig der Hochbahnstation Shadwell auf die Straße. Dazwischen liegen Welten: Oben verbindet die „Dockland Light Railway“ die Londoner City mit den gläsernen Büros von Canary Wharf im Themsebogen, darunter liegt Tower Hamlets – Londons ärmster und polarisiertester Stadtteil. Hier liegen riesige Finanzzentren aus Glas und Stahl, aber auch zerbröckelnde Plattenbauten. In Bethnal Green im Westen des Stadtteils leben 30.000 Immigranten aus Bangladesch, auf der Isle of Dogs hinter der Finanzglitzerwelt wohnen arbeitslose weiße Ex-Hafenarbeiter und ihre Familien.

Bis auf ein altes, schwarzes Ehepaar steigt niemand an der Haltestelle Shadwell aus. Die beiden gehen die Treppe hinunter, biegen in die Watney Street ein und stellen sich ans Ende der Schlange, die sich vor dem Postamt an der Ecke gebildet hat. Es ist „Dole Day“ – der Tag, an dem die Stütze ausgezahlt wird.

Labours Angst

Am Ende der Watney Street stößt man auf die Cable Street. Gleich rechts liegt der U-Bahn-Eingang, schräg gegenüber der braune Steinbau der Methodistenkirche von St. George, daneben die zweistöckige Bezirksverwaltung mit ihren großen Fenstern. Über der grünen Eingangstür ist das Baujahr in den Stein gemeißelt: 1860. Im Erdgeschoß befindet sich das sogenannte „One-Stop-Shop“, ein kommunales Beratungszentrum. „Der kleine Shop ist ein Segen“, sagt der 72jährige Frank Cunningham, der im Sozialbau „Gosling- Haus“ etwas weiter die Cable Street hinauf wohnt. „Wenn der Wasserhahn leckt, wenn ich mich über einen geplanten öffentlichen Parkplatz beschweren oder wegen einer Mieterhöhung nachfragen will – das kann ich alles in diesem Laden machen und muß nicht erst ins Rathaus rennen.“

Die „One-Stop-Shops“ wurden in den 80er Jahren von den Liberaldemokraten eingerichtet, die acht Jahre lang die Mehrheit in Tower Hamlets hatten. Sie teilten den Bezirk in kleine „Neighbourhoods“ ein, die über ihren Etat autonom verfügen konnten. Die Labour Party, die seit den Kommunalwahlen vom vergangenen Jahr wieder stärkste Partei in Tower Hamlets ist, will die Dezentralisierung rückgängig machen. Als Begründung führen sie ausgerechnet Millwall an, jene jetzt auch wieder von Labour kontrollierte Neighbourhood auf der Isle of Dogs, wo mit David Beackon vor zwei Jahren zum ersten Mal in England ein Mitglied der faschistischen British National Party (BNP) einen Sitz im Gemeinderat gewann.

Zwar verlor er sein Mandat im vergangenen Mai wieder, doch der Schrecken saß tief: Wären statt dessen zwei weitere BNP-Leute in den Gemeinderat gewählt worden, hätten die Faschisten über das Millwall-Budget von umgerechnet rund 70 Millionen Mark verfügen können. Als erste Maßnahme wollten sie das Gemeindezentrum in „Oswald-Mosley-Haus“ umbenennen.

An den Gründer der „British Union of Fascists“, der 1980 in Paris starb, wird auch in der Cable Street erinnert – aber nicht im Sinne der BNP. Die westliche Giebelwand des Hauses der Bezirksverwaltung ziert ein riesiges Wandgemälde in dunklen Farben. Am besten kann man es von der Betonrampe für Rollstuhlfahrer betrachten, die hinter einem schmiedeeisernen Tor rechts vom Gebäude zum Hintereingang führt. Das Gemälde zeigt eine symbolisch überhöht dramatische, wilde Schlachtszene: Pferde, Männer und Frauen mit Schwertern, Verletzte und ein Polizist mit der Dienstnummer 1936 am Revers – The Battle of Cable Street (siehe Foto).

Der Künstler Paul Butler, der mit diesem Werk an die berühmteste der Straßenschlachten der 30er Jahre erinnern will, lebt gefährlich. „Rechtsradikale Jugendliche haben mir schon mehrmals die Autoreifen zerstochen“, sagt er. „Neulich fand ich einen Zettel, auf dem es hieß, daß sie statt der Reifen meine Lungen zerstechen werden, wenn sie mich kriegen.“ Sein Wandgemälde muß regelmäßig restauriert werden, wenn es nachts wieder mal ein paar Farbbeutel abbekommen hat. Am Wahltag im vergangenen Jahr spannte Butler vorsichtshalber eine Plane aus Segeltuch über das Bild.

Der alte Frank Cunningham war erst 13, als die Schlacht in der Cable Street stattfand. „Ich kann mich nicht mehr genau an Einzelheiten erinnern“, sagt er, „die Straße hat sich seitdem sehr verändert. Aber Faschisten gibt es hier noch mehr als genug.“ Bei der hohen Arbeitslosigkeit falle die rechte Propaganda auf fruchtbaren Boden. Sein Enkel Mark, der gerade 21 geworden ist, gehört zur „Shadwell Community Defence“, einer kleinen militanten Initiative, die sich im vergangenen Herbst gebildet hat und die BNP mit Gewalt aus dem Viertel vertreiben will. Sie hat ein Frühwarnsystem organisiert: Sobald ein BNP-Zeitungsverkäufer auftaucht, wird mit Trillerpfeifen Alarm gegeben.

David Sanders, Politikwissenschaftler an der Universität Essex, hält die Aufregung für übertrieben. Zwar geht auch er davon aus, daß „die BNP oder irgendeins ihrer Derivate uns auf absehbare Zeit erhalten bleiben“ werden, aber er fragt: „Wie viele Leute stimmen denn für rechtsextreme Parteien? Das sind doch winzige Zahlen!“ Allerdings erhielt beim letzten Mal der BNP-Kandidat Gordon Callow, der seit den sechziger Jahren eine ganze Kette von Verurteilungen wegen rechtsextremer Gewalttaten vorweisen kann, nur zwölf Stimmen weniger als der zweitplazierte Liberaldemokrat – und weit mehr als der Konservative.

Nazis in Nadelstreifen

Kobir Hussain bleibt wachsam. Der 20jährige eher schmächtige Bangladeschi, der seit 16 Jahren im Eastend lebt, gehört ebenfalls der „Shadwell Community Defence“ an. „Sicher“, sagt er, „die Faschisten sind zahlenmäßig schwach, wenn man sich die landesweite Statistik ansieht. Aber was nützt dir das, wenn du als Schwarzer ausgerechnet in einem Viertel lebst, das zu ihren Hochburgen zählt?“ Die BNP-Leute geben sich seriös, meint Hussain. „Tagsüber tragen sie Nadelstreifenanzüge und brüllen höchstens mal im Vorbeifahren ein paar rassistische Sprüche aus dem Auto. Aber die BNP und Combat 18 sind nach wie vor dieselbe Organisation.“

Combat 18 – die Zahl steht für den ersten und achten Buchstaben des Alphabets: AH, Adolf Hitler. Zwar behauptet die BNP, die Verbindungen zu dem Schlägertrupp vor drei Jahren abgebrochen zu haben, doch eine Dokumentation des unabhängigen Fernsehsenders Channel Four bewies vor kurzem das Gegenteil. Da marschiert Combat-18-Aktivist Charlie Sargeant bei einer Demonstration neben BNP-Chef John Tyndall, da trifft sich BNP-Funktionär Richard Edmunds mit ein paar militanten Bundesgenossen zur Strategiediskussion, und ein anonymer BNP-Aktivist macht sich über das Verbot von Combat 18 lustig. Um der Strafverfolgung zu entgehen, benutzt man einfach die Adresse eines befreundeten Ku-Klux- Klan-Mitglieds in den USA. Die BNP gibt Adressen von Linken und Antifaschisten weiter, um die sich die „Genossen“ von Combat 18 dann „kümmern“.

Das geht so: Dem 84jährigen Leon Greenman, der Frau und Tochter in Auschwitz verlor und selbst Jahre dort verbrachte, wurden die Fenster eingeworfen, und er erhielt Morddrohungen. Die Lehrerin Gill Milner, die in einem Leserbrief gegen die BNP Stellung bezogen hatte, terrorisierte man so lange, bis sie ihren Job aufgab und aus der Gegend wegzog.

Am östlichen Ende der Cable Street ragt die fast 150 Jahre alte Kirche St. Mary über die Wohnsiedlungen heraus. Ihr knallrotes Portal leuchtet in der Sonne. „Sieht aus wie der Eingang zur Hölle“, lacht Ruth, eine kleine, rundliche Endfünfzigerin mit braungefärbten Haaren. Sie wartet vor dem heruntergekommenen Schnapsladen gegenüber der Kirche auf ihren Mann. „Für die Frauen ist das Wohnungsproblem der schlimmste Mißstand“, sagt sie, „für die Männer ist es die Arbeitslosigkeit. Es gibt hier Wohnsiedlungen, in denen niemand unter 25 und über 40 einen Job hat.“

Ihre Söhne, beide Anfang 20, hatten noch nie eine feste Stelle, seit sie mit sechzehn von der Schule abgingen. „Ich bin keine Rassistin“, sagt Ruth, „aber ich will in meinem eigenen Land eine faire Chance für mich und meine Familie.“ Ihr Mann Tom, der inzwischen mit einem Sechserpack Bier aus dem Laden gekommen ist, gibt ihr recht: „Die Inder müssen keinen Finger krumm machen und bekommen alles, was sie wollen, und unsereins lebt im letzten Loch.“

Das Ehepaar, seit 40 Jahren stramme Labour-Wähler, hat im vergangenen Jahr zum ersten Mal BNP gewählt, um „den Politikern Feuer unterm Hintern“ zu machen. Inzwischen sind sie etwas unsicher geworden, denn mit Gewalt wollen sie nichts zu tun haben. „Das Fußballspiel in Dublin, das wegen Ausschreitungen englischer Fans im Februar abgebrochen werden mußte, hat Englands Ansehen im Ausland schweren Schaden zugefügt“, sagt Tom, „und das wegen einer Handvoll hirnloser Rechtsextremer.“

Geheimes Hirn-Handbuch

Doch so hirnlos ist die englische Fascho-Szene keineswegs. Anfang März wurde eine Broschüre der „White Wolves“, der „weißen Wölfe“, bekannt – dahinter steckt niemand anders als Combat 18. In dem Handbuch, das „Mitglieder auswendig lernen und dann verbrennen“ sollen, beschreiben die Autoren, wie man kleine, konspirative Zellen bildet. Sie rufen zu Angriffen auf „Nicht-Weiße“ auf, die Racheaktionen provozieren und einen „Auge-um-Auge-Konflikt“ auslösen sollen, der wiederum zu verstärkter Segregation und schließlich zur Deportation der Einwanderer führen soll.

Uniformen, rasierte Schädel und Alkohol sind tabu und Waffen unnötig, weil die Aktionen leicht nachzuahmen sein müssen. Außerdem empfehlen die Autoren die Lektüre der „guten Anti-Verhör- Broschüren“ der Loyalisten oder der IRA. „Beide produzieren ganz exzellente Hefte, die vielen Männern und Frauen einen Gefängnisaufenthalt erspart haben“, heißt es.

Die Zahl rassistischer Übergriffe in Großbritannien hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt, wobei die Dunkelziffer mit Sicherheit sehr hoch ist. Das Innenministerium hat Scotland Yard mit der Einrichtung einer Sondereinheit zur Bekämpfung des rechten Terrors beauftragt, nachdem der Special Branch – so etwas wie der Verfassungsschutz – bei dieser Aufgabe versagt hat. „Im Januar hat die Polizei in zwei Londoner Wohnungen Combat- 18-Zeitungen und schwarze Listen mit Gewerkschaftern, Anti-Rassisten und Abgeordneten gefunden“, sagt Mark Cunningham von der Shadwell Community Defence, „daneben lagen Anleitungen zum Bombenbasteln. Niemand ist bisher deswegen belangt worden. Wenn sich die Polizei nicht um die Faschisten kümmert, müssen wir die Sache eben selbst in die Hand nehmen.“