Indien gegen „nukleare Doppelmoral“

Das atomare Schwellenland boykottiert die New Yorker Konferenz über die Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags: Zorn über die Vorrechte der fünf Atommächte  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

So einhellig und geschlossen ist die öffentliche Meinung in Indien selten wie in der Verurteilung des Atomwaffensperrvertrags. Alle Parteien, von den Kommunisten bis zur rechten Bharatiya Janata Party, werden ebenso wie die Medien, Intellektuellen und WissenschaftlerInnen nicht müde, das „entehrte und unehrliche“ Abkommen als „nuklearen Imperialismus“ zu brandmarken.

Der Nuclear Nonproliferation Treaty (NPT), über dessen Verlängerung seit Montag in New York beraten wird, hat nach Ansicht des indischen UNO-Vertreters vergangene Woche vor dem Sicherheitsrat nur erreicht, „die Proliferation [starke Vermehrung] von Atomstaaten zu unterbinden, nicht aber die Proliferation von Atomwaffen“.

Selbst wenn die USA und Rußland ihre Arsenale wesentlich verkleinern würden, existierten am Ende der vereinbarten Zeitperiode im Jahr 2003 mehr Atomwaffen als beim Inkrafttreten des Vertrags 1968. Schon damals hatte sich Indien für eine globale und vollständige Ächtung von Atomwaffen eingesetzt. Sechs Jahre später zündete das Land in der Wüste von Rajasthan seine eigene „friedliche Bombe“, verzichtet aber – so die offizielle Lesart – darauf, seine Fähigkeit, Atomwaffen zu bauen, umzusetzen.

Indien begründet seine Weigerung, dem Sperrvertrag beizutreten, mit dessen „Doppelmoral“: Während die fünf Atomstaaten für sich ein legitimes Sicherheitsinteresse in der nuklearen Abschreckung sehen, gilt diese in den Händen der nuklearen Habenichtse plötzlich als globales Sicherheitsrisiko. Zwar erkenne der Vertrag die Gefahr solcher Massenvernichtungswaffen an, aber die fünf Atommächte hätten nichts getan, um den Artikel 6 des Atomsperrvertrags umzusetzen, der sie auf eine „allgemeine und vollständige“ atomare Abrüstung verpflichtete. Auch die geographische Weiterverbreitung der Atomwaffen sei durch den Vertrag nicht aufgehalten worden, wie sich am Beispiel Pakistans, Iraks und Israels zeige.

Handkehrum, so der Publizist Inder Malhotra, setzten die USA alle Hebel in Bewegung, um den Verkauf eines russischen Atomreaktors an den Iran zu verhindern, obwohl Lieferant wie Empfänger den Sperrvertrag unterzeichnet hätten und sich daher den Kontrollen der Atomenergieagentur in Wien unterwürfen.

Indiens trotziges Abseitsstehen gründet aber nicht nur auf grundsätzlichen Argumenten. Seit seinem Krieg mit dem ehemaligen Bundesgenossen China 1962 ist die Bedrohung aus dem Norden eine Konstante seiner Außen- und Sicherheitspolitik. In den vergangenen zwanzig Jahren hat die Atommacht China ihr nukleares Potential vervierfacht, und während sich Indien seit 1974 an ein Test-Moratorium hält, führt der nördliche Nachbar immer noch Atomtests durch.

Zwar hat sich China 1982 verpflichtet, nie einen nuklearen Erstschlag zu führen. Aber in einer Erklärung, welche Beijing am 5. April bei der Genfer Abrüstungskonferenz hinterlegt habe, schränke es diese Verpflichtung ein, sagt Chellany. Sie betreffe, so der Text, „natürlich die Länder, die Mitglieder des NPT oder ähnlicher internationaler Instrumente sind“.

Pakistan als Beobachter der Konferenz vertreten

Indien hegt den Verdacht, daß Länder, die es wagen, dem Vertrag nicht beizutreten, der Willkür der Atommächte ausgeliefert werden. Die Atommächte haben sich das Recht vorbehalten, Atomwaffen auch in einem Erstschlag einzusetzen, wenn dies für die Sicherheit des Landes nötig sei. „In einer Zeit“, so die Schlußfolgerung des indischen UNO-Vertreters, „die sich wie keine andere zuvor für eine allgemeine Abrüstung anbietet, können die mächtigsten Länder nicht mehr tun, als ihre Macht, die ihnen die Atomwaffe gibt, weiterhin auszuspielen.“

Im Gegensatz zu Indien hat Pakistan beschlossen, die Konferenz als Beobachter zu verfolgen. Zwar betrachtet auch Indiens Nachbar den Vertrag als diskriminierend. Aber Pakistan würde, so die offizielle Haltung, dem NPT beitreten, falls auch Indien dies tun würde.

Die offenere Haltung kann aber auch als Antwort auf die Kritik an seinem geheimen Atomwaffenprogramm gelesen werden. Waren es früher Schmuggel sensibler Verfahren und Geräte aus Europa gewesen, scheint Pakistan heute zu versuchen, fehlende Technologien von seinem langjährigen Lieferanten China zu erhalten. Vor einer Woche zitierte die Washington Post Geheimdienstdokumente, wonach Pakistan mit chinesischer Hilfe einen Atomreaktor konstruiere, aus dessen abgebrannten Uranstäben es Plutonium gewinnen könnte. Premierministerin Benazir Bhutto, die sich zu diesem Zeitpunkt in den USA befand, gab die Existenz des bisher geheimen Reaktors zu, stritt aber ab, daß Pakistan die Kenntnisse habe, Plutonium bis auf Waffengrädigkeit aufzubereiten.