„Nur einmal mit dem Kochlöffel geprügelt“

Vor dem Mainzer Landgericht hat der zweite Mammutprozeß wegen Kindesmißbrauchs begonnen / Beschuldigt wird ein weiterer Familienclan aus Worms / 13 Angeklagte, 14 Kinder, 89 Fälle  ■ Von Heide Platen

„Worms II“ begann mit einer Mahnung des Vorsitzenden Richters Hans E. Lorenz: Kein „Rumgrölen“ und kein „Rumknutschen“ in den Verhandlungspausen! Lorenz richtete sich damit an die 13 Angeklagten. Sie sind Eltern, Onkel, Tanten und Bekannte, und sie werden beschuldigt, 14 Kinder in 89 Fällen sexuell mißbraucht, zu Pornofilmen gezwungen und zu sadistischen Quälereien an Dritte verliehen zu haben.

Ihr Prozeß hat Anfang April begonnen. Parallel dazu läuft im selben Saal des Mainzer Landgerichts noch immer „Worms I“. Hier werden sechs Mitglieder einer anderen Wormser Großfamilie des Kindesmißbrauchs beschuldigtt. Die siebente Angeklagte, Großmutter der Kinder, ist Anfang des Jahres in Untersuchungshaft an einer Herzschwäche gestorben (taz vom 18. 1. 95).

Die Prozesse sind der Überschaubarkeit wegen in „Worms I“ und „Worms II“ durchnumeriert. Ein dritter Prozeß wird demnächst beginnen.

Zum Teil sind es dieselben Kinder, die in den Verfahren betroffen sind. Denn beide Großfamilien waren durch die kurze Einheirat einer der Angeklagten verbunden, lagen seit 1987 in einer unerbittlichen Familienfehde, hatten um Sorgerechte gestritten, sich immer wieder gegenseitig verdächtigt und beschuldigt. In beiden Prozessen bestreiten die Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Taten.

Doch im Gegensatz zu „Worms I“ sind in „Worms II“ zwölf der Angeklagten bereit, über ihren Lebenslauf, also „zur Person“, auszusagen. Sechs von ihnen, fünf Frauen und ein Mann, sind Geschwister. Dazu kommen die Schwägerin, ein Ehemann, dessen Schwager, zwei Ex-Ehemänner, ein Lebensabschnittsgefährte und eine Freundin.

In ihren Aussagen klammern sie sich fest an die winzigen heilen Welten, in denen sie sich zwischen harter Arbeit, Sozialamt, Hoffnung, Scheitern und widrigen Umständen einzurichten versuchten. Sie sind mit und ohne Gesellenausbildung, hin und her geschubst zwischen Firmenpleiten, Gelegenheits-, Aushilfs- und Schichtarbeit bei Akkordfirmen und Speditionen, an der Ladenkasse, im Baumarkt, beim Serieneinbau von Küchen, im Spanplattenlager. Sie landeten immer wieder beim Arbeits- oder Sozialamt, in Hotelunterkünften.

Die Frauen waren dabei schlechter dran als die Männer, wohl auch deshalb schnell verheiratet und noch schneller geschieden. Die eigene Wohnung, der Ratenvertrag für die teuren Möbel, das erste eigene Auto sind Daten, die ihnen manchmal flüssiger von den Lippen gehen, fester im Gedächtnis sind als der Hochzeitstag oder die Geburtstage der Kinder.

Strafprozesse haben es an sich, daß sich Lebensläufe unversehens zu horriblen Szenarien wandeln. Das Gericht fragt nach Fehlern und Lastern, nach Prügeln, Alkohol und Streit – nach Umständen also, die Taten verständlich machen und eine mögliche Strafe mildern könnten. Es fragt nach verfehlten Schulabschlüssen, abgebrochenen Lehren, gekündigten Stellungen, Zeiten der Arbeitslosigkeit. Nach Scheitern – nicht nach den mühseligen Versuchen, sich einzurichten, und der darauf verwandten Anstrengung.

Heike G. ist eine der fünf angeklagten Schwestern. Und sie erzählt dem Gericht: daß sie ihre erste Tochter im Mutter-Kind-Heim zur Welt brachte und daß dann ein Sohn von einem anderen Mann kam. Der erste Kindsvater war brutal und trank, dem zweiten gab sie den Laufpaß, denn der, Mitglied im Ford-Capri-Club, „hing nur an seinem Auto“. Den Vater des dritten Kindes hat sie geheiratet. Die Ehe ist zerbrochen, während sie in der Untersuchungshaft saß. Da war aber auch noch, stellt sich dann heraus, als das Gericht nachfragt, „eine andere Frau im Spiel“.

Ihre älteste Tochter, erzählt Heike G., „hat viel gelogen und mich bestohlen“. Die Mutter redet von dem damals fünfjährigen Kind, als sei es im Sinne des Gesetzes straffällig geworden, weil es ins Bett machte. „Ich hatte den Eindruck, die macht das absichtlich.“ Später habe das Mädchen zuerst Kleingeld aus einer Flasche gestohlen, dann „einen großen Betrag“, 100 Mark aus einer Teekanne; in der hatte Heike G. das gesammelt, was sie von der Sozialhilfe für den Führerschein abzweigen konnte.

Richter Lorenz scheint durch diese Erzählung befremdet. Er kennt vermutlich die vielen Behältnisse nicht, in denen Menschen mit wenig Geld den Selbstbetrug der Sparens versuchen und die erstrebte Summe, für die eine Bank nicht lohnt, doch nie zusammenbekommen.

Staatsanwalt Dieter Bracht fragt Heike G., warum sie ihre Tochter, als diese acht Jahre alt war, in ein Heim gegeben habe. Dazu habe ihr das Jugendamt geraten, sagt die 27jährige. „Ich hatte auch nicht mehr die Nerven, da habe ich zugestimmt.“ Warum das Amt vorher bei der Frau ein und aus ging, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Heike G. wiederholt ihre Version mehrmals, als müsse sie vor allem sich selbst überzeugen. Die seien gekommen, als das Kind in die Schule kam, um ihr „zu helfen, damit ich lerne, mit dem Kind zu lernen“.

Staatsanwalt Bracht hat eine andere Version: Sei es nicht vielmehr so gewesen, daß das Amt eingegriffen habe, weil das Kind von ihr „grün und blau geschlagen“ worden sei? Heike G.: „Das ist nicht wahr!“ Nur „einmal“ habe sie es mit dem Kochlöffel verprügelt. Ansonsten habe sie „nicht gleich“ geschlagen, sondern „nur, wenn sie nicht gehört hat“.

Die ZuschauerInnen im Gerichtssaal 201 reagieren auf solche Aussagen mit hilflosen Stereotypen. Erster Mann: „Bei uns zu Hause ist auch geprügelt worden, das hat ganz und gar nichts geschadet.“ Zweiter Mann: „Ein Kind muß eben von Anfang an erzogen werden.“ Eine Frau: „Aber nicht so kleine Kinder, die verstehen doch noch nichts.“ Und der Berichterstatter eines Boulevard- Blattes schreibt über die Angeklagten: „Ich sehe sie grinsen, ich empfinde nur Ekel.“ Er läßt seine LeserInnen wissen, daß er sich die Hände waschen mußte, „als ob Ekel an ihnen klebte“: „Mir bleibt die Luft weg. Diese armen Kinder.“

Die Kinder sind in diesen Verfahren Zeugen, „kindliche Zeugen“. Sie wurden in „Worms I“ wochenlang unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommen. Das kann ihnen in „Worms II“ und „Worms III“ wieder bevorstehen.

Die Befragung einer der Hauptbelastungszeuginnen durch das „Worms I“-Gericht – es ist ein inzwischen siebenjähriges Mädchen – beschäftigte dessen Vorsitzenden Richter Jens Beutel bis zur eigenen Hilflosigkeit. Das Kind habe, berichtete er, bei der ersten Vernehmung nichts gesagt, machte „einen sehr verängstigten und zurückhaltenden Eindruck“, sei immer wieder „in eine apathische Haltung“, „einen tranceartigen Zustand“ gefallen, wenn es nach seinem Elternhaus befragt wurde.

In einer 20minütigen Pause habe er mit dem Kind gespielt: „Das Kind war mir gegenüber aufgeschlossen.“ Doch die Vertrauenswerbung war vergeblich. Richter Beutel brach die nachfolgende Vernehmung ab, bei der auch nach Ausschluß von Presse und Publikum ungefähr 20 Menschen – Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Nebenklage und GutachterInnen – versammelt waren.

Die Atmosphäre ist während einer solchen Vernehmung spannungsgeladen. Denn die Anwälte der Angeklagten haben naturgemäß kein Interesse daran, daß die Kinder Belastendes gegen ihre Mandanten aussagen. Und die Staatsanwaltschaft geißelt dann die Verteidiger, weil sie während der Kindervernehmung „hüsteln, mit Papier rascheln oder dazwischenreden“. Ein Verteidiger meint ratlos: „Ich ziehe die Robe aus, und ich mache mich doch schon ganz klein und unauffällig.“

Viele der Kinder sind mittlerweile dutzendfach befragt worden. Durch Jugendamt, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, GutachterInnen, und Gerichte. Sie haben den Mißbrauch, pädagogisch animiert, immer wieder mit anatomischen Puppen nachgespielt. Ihre Geschlechtsorgane sind bei ärztlichen Untersuchungen fotografiert worden.

Die Kinder haben, erklärte Heimleiter Stephan S. in „Worms I“, „panische Angst“ vor den Angeklagten. Die Familien sind, mit oder ohne Schuldspruch, unwiederbringlich zerbrochen. Als die Großmutter der bei ihm im Heim untergebrachten Kinder in der Untersuchungshaft starb, habe es, so S., einen Freudenausbruch gegeben. „Juhu, Oma Born ist tot!“ habe ein Mädchen immer wieder gerufen und sei durch das ganze Haus gehüpft. Auch die anderen Enkel hätten sich gefreut.

Vergangene Woche richtete Vorsitzender Lorenz in „Worms II“ einen eindringlichen Appell an die Angeklagten, durch Geständnisse weitere Vernehmungen der Kinder zu verhindern. Er formulierte bedachtsam: „Es könnte ja sein, daß der eine oder andere von Ihnen das eine oder andere zugeben könnte.“ Dabei wies Lorenz auch auf die Nachteile hin, die ein solches Geständnis „bei Bekannten und am Arbeitsplatz“ bringen könne, und daß dazu „viel Stärke und Kraft“ erforderlich sei. Solchen „Eisbrechern“ bot er an, ihr Verfahren abzutrennen und „binnen einer Woche“ zu beenden. Dies gelte nicht für denjenigen, „der nichts zu gestehen hat. Die anderen sollen in sich gehen.“

Er gab den Angeklagten eine Woche Bedenkzeit, in der wohl auch das Gericht inständig auf diesen Königsweg hofft – in einem Verfahren, bei dem der mögliche Wahrheitsgehalt der Kinderaussagen und tatsächliche Mißbrauchsspuren in einem Wust aus Familienfehden, monströsen Verdächtigungen, sozialarbeiterischem Übereifer, Gruppendruck bei Angeklagten und Kindern hoffnungslos verlorenzugehen drohen. „Es ist leichter“, sinniert Richter Lorenz, „eine Körperverletzung zuzugeben. Da bleibt man immer noch ein starker Mann.“