Nächste Woche begehen die Armenier den 80. Jahrestag des türkischen Völkermords an der armenischen Minderheit. Neue Forschungen zeigen, daß deutsche Militärs und Politiker diese Massaker nicht nur guthießen, sondern auch anregten und sich aktiv daran beteiligten. Von Jürgen Gottschlich

„Das ist hart, aber nützlich“

Bislang ging man davon aus, daß die Deutschen als Verbündete des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg den Völkermord an den Armeniern zwar mißbilligten, aber aus politischem Kalkül nicht wirksam dagegen protestierten. Dabei wäre Deutschland die einzige Macht gewesen, die die Türken hätte bremsen können. Nach dem Tod des deutschen Botschafters in Istanbul, Hans Freiherr von Wangenheim, im Oktober 1915 telegraphierte sein US- Kollege Henry Morgenthau sen. nach Washington: „Er war der einzige Mann, der diesen Verbrechen hätte Einhalt gebieten können.“

Warum Wangenheim nicht eingriff, geht vor allem aus neuen Forschungsarbeiten des US-armenischen Wissenschaftlers Vahakn N. Dadrian hervor, dessen Buch über den Genozid und die deutsche Rolle in dem Verbrechen demnächst in den USA erscheinen wird1: Wangenheim verbündete sich mit der Sache der Jungtürken, die Armenier waren für ihn ein „verräterisches Geschmeiß“.

Dadrian nennt vor allem vier Deutsche, die maßgeblich an dem Völkermord beteiligt waren:

– Botschafter Freiherr von Wangenheim,

– Wangenheims Militärattaché, Korvettenkapitän Hans Humann, ein Freund des osmanischen Kriegsministers Enver Pascha,

– General Fritz Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs des osmanischen Feldheeres im Großen Hauptquartier in Istanbul

– und Oberstleutnant Sievert, der als Leiter der Operationsabteilung des Geheimdienstes, dessen Chef, der osmanische Oberst Sytir, direkt für Organisation und Finanzierung des Völkermordes zuständig war, sich sogar selbst die Hände schmutzig machte.

Zwar ist die Quellenlage zur Erforschung der Massaker äußerst schwierig – sowohl die türkische als auch die deutsche Seite vernichteten nach dem Krieg alles belastende Material –, dennoch kann Dadrian Dokumente vorlegen, die eine direkte Beteiligung der Deutschen belegen.

Wangenheim, Humann, Bronsart und Sievert hielten Schlüsselstellungen im militärisch-politischen Apparat inne, das dem zu Kriegsbeginn geschlossenen deutsch-türkischen Militärbündnis zur Wirksamkeit verhelfen sollte. Für Deutsche und Türken hieß der gemeinsame Feind Rußland. Rußland hatte vor dem Krieg die Armenier im zerfallenden Osmanischen Reich protegiert und auf Reformen zugunsten der christlichen Minderheit gedrängt. Die Armenier waren außerdem ein Störfaktor für die türkischen Nationalisten – sie standen dem Pantürkismus im Wege, der eine Vereinigung mit den Turkvölkern im Transkaukasus suchte. Und das konnten die Pangermanisten um Kaiser Wilhelm II. gut nachvollziehen.

Schon Jahre vor dem ersten Weltkrieg waren in der vom deutschen Auswärtigen Amt mitgegründeten Deutsch-Türkischen Vereinigung Pläne diskutiert worden, wie ein Großtürkisches Reich unter Einschluß der asiatischen Turkvölker aussehen könnte und wie Rußland angeblich die Armenier benutzt, um die Türkei zu schwächen und zu zerstückeln. Deshalb schlug der langjährige deutsche Militärberater an der Hohen Pforte, General von der Goltz, bereits vor Ausbruch des Krieges vor, die 500.000 Armenier, die in den sechs Ostprovinzen lebten, ein für allemal aus den russisch-türkischen Grenzgebieten zu entfernen und in den Regionen um Aleppo und in Mesopotamien anzusiedeln.

Äußerungen dieser Art belegen, daß die Deportation der Armenier ab Mai 1915 keine Ad-hoc-Entscheidung aufgrund der aktuellen Kriegslage war – sie wurde lange im voraus im Gespräch mit den deutschen Freunden erwogen.

Konkrete Gestalt nahmen die Deportations- und Vernichtungspläne an, als in Istanbul die sogenannten Jungtürken, die Ittihad ve Terakki (Partei der Freiheit und des Fortschritts), an die Macht kamen. Anstelle des Sultans, der praktisch nichts mehr zu sagen hatte, wurden Enver Pascha und Talaat Pascha, Kriegs- und Innenminister des Regimes, die eigentlichen starken Männer. Die Ittihad, anfangs als Reformbewegung begrüßt, wurde zu einem Sammelbecken türkischer Nationalisten. In ihrem Zentralkomitee fiel letztlich auch der Beschluß zum Völkermord. Insbesondere Enver Pascha, der mehrere Jahre als Militärattaché in Berlin war, pflegte engste Beziehungen zu den deutschen Partnern.

Der überragende deutsche Einfluß auf politische Entscheidungen des Verbündeten ergibt sich schon aus der Anzahl deutscher Offiziere in wichtigen Stellungen: Auf dem Höhepunkt des Krieges tummelten sich 800 deutsche Offiziere an den Schaltstellen des osmanischen Heeres. Geheime Verträge legten fest, daß jedem türkischen Truppenkommandanten ein deutscher Stabsoffizier zur Seite gestellt war.

Chef des Generalstabes des osmanischen Feldheers war, wie erwähnt, Bronsart von Schellendorf. Dadrian zeigt, daß er eine besonders aktive Rolle bei den Deportationen spielte. Auf Drängen Bronsarts, so Dadrian, berief Enver Pascha Anfang 1915 eine geheime Konferenz der osmanischen Minister und der deutschen Militärberater ein. Bei diesem Treffen drängten vor allem die Deutschen auf den Beginn der Deportationen im Osten, und Bronsart unterschrieb den Deportationsbefehl.

In einem Dokument, das Dadrian in englischen Archiven fand, fordert Bronsart „harte Maßnahmen“ gegen die Armenier in den Arbeitsbataillonen, damit sie nicht die Deportationen behindern (alle wehrfähigen Armenier waren nach Kriegsbeginn aus der osmanischen Armee entfernt und in Arbeitsbataillone gesteckt worden). Tatsächlich wurden die Armenier aus den Arbeitsbataillonen von den türkischen Mordkommandos systematisch umgebracht. Bronsart muß sich dessen bewußt gewesen sein. Er benutzte das türkische Wort „ședide“, um diese „harten Maßnahmen“ zu verlangen. „Das Wort hatte schon unter Abdul Hamid bei den Armenier-Massakern von 1895 eine spezielle Bedeutung erlangt. Die türkischen Amtsträger verstanden darunter einen Freibrief zum Töten“, schreibt Wolfgang Gust in einem Artikel über den deutschen Anteil am türkischen Völkermord in der gerade erschienen Nummer der Zeitschrift Mittelweg 362.

Noch nach dem Krieg rechfertigte Bronsart das türkische Vorgehen mit den Worten: „Der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufgesaugt hat.“ Daher, so Bronsart weiter, der Haß, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie „als unerwünschtes Volk“ entlud und „zu ihrer Ermordung führte“.

Neben Bronsart hatte noch der deutsche Militärattaché, Korvettenkapitän Hans Humann, direkten Zugang zum Kriegsherren Enver Pascha. Humann sorgte unter anderem dafür, daß der Nachfolger Wangenheims als Botschafter in Istanbul, Paul Graf Wolff-Metternich, der als einziger hochrangiger Deutscher gegen die Armenier-Verfolgung nachhaltig protestierte, schon bald wieder aus Istanbul abberufen wurde. An ein Telegramm, in dem der deutsche Konsul in Mossul sich über die barbarische Ermordung von 614 armenischen Männern und Frauen empört, schrieb Humann als Anmerkung: „Die Armenier werden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“

Keine schriftlichen Nachweise gibt es über das Wirken des Geheimdienstoffiziers Sievert. Er muß aber allein aufgrund seiner Position von der Ausrottung der Armenier nicht nur unterrichtet gewesen sein, sondern sie mit organisiert haben: Sievert war Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstchefs Oberst Seyfi, dem die „Teskilat-i Mahsusa“ unterstanden. Diese Milizen der Partei – von der Funktion her eine Vorläuferorganisation der SS-Totenkopfverbände – waren die ausführenden Organe des Völkermords.

Nach dem Krieg wurde die deutsche Beteiligung an den Massakern konsequent vertuscht – so wie die offizielle türkische Politik bis heute bestreitet, daß es überhaupt einen Völkermord gegeben hat.

Der letzte deutsche Generalstabschef in Istanbul, der Bronsart- Nachfolger Hans von Seeckt, hat möglichst viel Material verschwinden lassen, aus dem die deutsche Rolle ersichtlich wurde. Und selbst Johannes Lepsius, der aufrechte Chronist der Verbrechen an den Armeniern, beteiligte sich an der Vertuschung der deutschen Schuld. Um für sein Buch über den Völkermord Unterlagen des deutschen Außenministeriums zu bekommen, nahm er es in Kauf, daß alle Hinweise auf die deutsche Mitschuld getilgt wurden.

1 „The History of the Armenian Genocide“ (Arbeitstitel) erscheint demnächst in der Cambridge University Press. Vergleiche auch: Wolfgang Gust: „Der Völkermord an den Armeniern“, München, Hanser 1993.

2 Daneben bietet die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung ein ganzes Dossier zum Völkermord an den Armeniern.