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Wieder Giftgasanschlag in Japan

■ 271 Menschen wurden nach einem Anschlag in Yokohama ins Krankenhaus eingeliefert / Kein Sarin

Tokio (taz) – Was bereits Tausende Japaner als Horrorvorstellung bei nächtlichen Alpträumen plagt, geronn gestern erneut zur Realität: Giftgas in der Eisenbahn, diesmal passierte es in Yokohama, mittags gegen 13 Uhr. Tote und Schwerverletzte zählte man diesmal keine, aber 271 Menschen mußten bis zum Abend mit Atembeschwerden in Krankenhäuser eingeliefert werden. Ort des Geschehens war der Hauptbahnhof von Yokohama, einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte für die Tokioter Metropole, wo wohl fast jeder Japaner schon einmal den Zug gewechselt hat. Woher die beißenden Dämpfe kamen, wußte hinterher niemand mehr, als die Polizei – nun schon wie gewohnt – in Kampfanzügen der Armee mit Gasmasken anrückte, um den Tätern auf die Spur zu kommen. Der größte Teil des Bahnhofs wurde für einige Stunden geschlossen.

Bis zum Abend blieben die Nachforschungen der Behörden freilich erfolglos: Wieder gab es kein Erkennungszeichen der Täter, und nicht einmal die Art des Gases wurde festgestellt, das in einer Bahnhofsunterführung und in einem Zugwaggon zeitgleich die Menschen zu schweren Hustenanfällen zwang. Die Polizei teilte allerdings mit, daß es sich keinesfalls um Sarin gehandelt habe. Bereits Anfang März hatte sich in Yokohama ein ähnlicher Vorfall ereignet. Wenig später wurden dann bei dem Sarin-Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn elf Menschen getötet und fünftausend verletzt.

Anfang Mai beginnt in Japan die „Golden Week“, eine traditionelle Feiertagswoche, während der die Züge im ganzen Land hoffnungslos überfüllt sind. Bis dahin, so hatten in den letzten Tagen die Tokioter Boulevardzeitungen gemeldet, will die Polizei den Giftgas-Spuk im Land beendet haben. Ein kühnes Versprechen, wenn es denn stimmt!

Die Häufung der Giftgasanschläge deutet immer mehr auf die Verwicklung von Mitgliedern der Sekte Aum Shinrikyo („Erhabene Wahrheit“) hin. Diese dementierte allerdings auch gestern wieder prompt jegliche Beteiligung an dem Angriff. Als neuesten Fund aus den Akten der Sekte veröffentlichte die Polizei gestern eine Adressenliste mit 80 deutschen Chemieunternehmen, welche die Organisation offenbar als Zulieferfirmen für die eigene Chemiefabrik in Japan benutzen wollte, die nach Vermutungen der japanischen Polizei zur Herstellung des tödlichen Gifgases Sarin eingesetzt wurde.

Nach und nach kommen so die komplexen, aber immer klug versteckten Aktivitäten der Sekte zum Vorschein: Von den Chemiedepots, die als Rohstofflager für ein ganzes Giftgasarsenal taugten, bis zu feinsten Methoden der Indoktrination von Sektenkindern, die gezwungen wurden, täglich Elektrodenhelme zu tragen. Bis jetzt war es allerdings nicht möglich, der Sekte in größerem Rahmen außergesetzliche Aktivitäten nachzuweisen.

Um zumindest den Gaskriegsvorbereitungen ein Ende machen zu können, verabschiedete das japanische Parlament gestern ein neues Chemiewaffengesetz, das die Herstellung des Giftgases Sarin und alle Vorbereitungen dazu unter schwere Strafe stellt. Beobachter vermuten, daß die Polizei nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Mai die Sektenführung samt Guru Shoko Asahara verhaften will. Der Vorsitzende der Nationalen Sicherheitskommission, Hiromu Nonaka, warnte gestern das japanische Parlament, daß Sektenmitglieder in der Lage seien, bedeutende Mengen des Giftgases Sarin mit sich zu führen. Bereits wenige Milligramm des von den Nazis entwickelten Gases sind für den Menschen tödlich. Georg Blume

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