Richtig betroffen sein

Ist auch eine Kunst: Dürfen Aidskranke auf die Bühne? Und darf man sie kritisieren, wenn's nicht gefällt? Ein Artikel über „Victim Art“ sorgt in Amerika seit Wochen für Aufregung unter den Intellektuellen  ■ Von Ute Thon

Die Bombe platzte unterm Tannenbaum. In seiner extradicken Ausgabe zum Jahreswechsel veröffentlichte das renommierte Kulturmagazin The New Yorker unter dem Titel „Das Undiskutierbare diskutieren“ eine Rezension, die mit den Worten begann: „Ich habe Bill T. Jones' ,Still/Here‘ nicht gesehen und habe keine Absicht, es zu besprechen ...“ Diese Feststellung hielt Kritikerin Arlene Croce jedoch nicht davon ab, das Tanzstück des amerikanischen Choreographen Bill T. Jones auf insgesamt sechs Magazinseiten zu zerfetzen wie ein Haifisch seine Beute. Seitdem stehen in den gediegenen Redaktionsräumen in Manhattans 43. Straße die Telefone nicht mehr still. Empörte Leser schreiben seitenlange Briefe. Die New Yorker Intelligenzia von Joyce Carol Oates bis Camille Paglia, von Tony Kushner bis Susan Sontag befindet sich im Krieg.

„So verächtlich über ein Werk zu schreiben, das man nicht gesehen hat, ist eine furchteinflößende Demonstration von Privilegien“, empört sich die New Yorker Autorin Bell Hooks auf der Leserbriefseite des New Yorker. Und Theaterregisseur Tony Kushner („Angels in America“) tobt an gleicher Stelle: „Gingrichs schrille Stimme ermuntert seinesgleichen überall. Ms. Croce hat vielleicht nichts mit den ,Gerechten‘ zu tun, aber sie fühlt sich bei den Rechten zu Hause.“ Susan Sontag wiederum ärgert das „schändlich niedrige Niveau“ der ganzen Debatte, springt der Tanzkritikerin aber dennoch tapfer zur Seite. „Man mag mit der Wahl des Anlasses ringen – ich tue das“, stellt die Autorin in einem offenen Brief an die New York Times fest, „aber im wesentlichen hat Ms. Croce recht.“ Und Camille Paglia schließlich findet die Auseinandersetzung noch viel zu zahm: „Wir brauchen viel mehr dekadente Blasphemien von Baudelaire und Genet und weniger Hätschelei und Beruhigungsmittel von Florence Nightingale.“

Was war geschehen? Die 60jährige Kritikerveteranin Arlene Croce, seit 22 Jahren für den New Yorker tätig, hatte in einem flammenden Traktat ihrer Empörung über sogenannte „Opfer-Kunst“ Luft gemacht. Tanzkünstler Bill T. Jones, dessen neueste Arbeit sich mit Verlust und Tod beschäftigt, bringe in seinem Stück sterbenskranke Menschen auf die Bühne und befände sich damit „jenseits jeglicher Kritik“. Denn, so Croces Logik, man könne niemanden kritisieren, für den man „Mitleid oder gar Hoffnungslosigkeit empfindet“. Damit spielt die Ballettliebhaberin auf die Tatsache an, daß der schwarze Multimedia-Performer zur Vorbereitung seines Stückes Interviews mit unheilbar Kranken gemacht hat, die als Videoprojektion in der Tanzchoreographie auftauchen. Jones selbst ist HIV- positiv, Arnie Zane, sein langjähriger Lebensgefährte und Partner der Bill T. Jones/Arnie Zane Dance Company, starb 1988 an Aids. Seitdem hat sich der 42jährige Jones, bei dem die Krankheit bislang nicht ausgebrochen ist, immer wieder mit Themen wie Trauer und Tod auseinandergesetzt. So auch in „Still/Here“, dessen Weltpremiere im letzten Herbst in Lyon mit Standing ovations gefeiert wurde. Mit seiner Ernennung zum Chefchoreographen des Lyoner Opernballetts, Gastchoreographien an den Opernhäusern von Boston, Berlin oder Houston sowie dem „Genius Award“, der höchsten Auszeichnung der amerikanischen MacArthur-Stiftung, gilt Jones als Star in der internationalen Modern-Dance-Szene. Selbst der New Yorker widmete ihm nur vier Wochen vor Arlene Croces vernichtender Kritik ein ausführliches Jubelporträt.

Für die „Victim Art“-Kritikerin bedeuten diese Lorbeeren jedoch nichts. In ihren Augen ist Jones mit seiner „reisenden Medizin-Show“ ein typischer Vertreter jener Art von Künstlern, zu denen sie auch Pina Bausch, Robert Mapplethorpe und Charles Chaplin „in seinen selbstmitleidigsten Momenten“ zählt, die die Sympathie der Kulturvertreter für „Opfer-Kunst“ aller Art, ob von aidskranken Homosexuellen, mißbrauchten Frauen oder von vernachlässigten afroamerikanischen Ghetto-Kids, für ihre Karrierezwecke ausnutzen. Tatsächlich hat Kunst von und für unterdrückte Minderheiten gerade wieder Konjunktur – nicht nur in Amerika. Hier haben schwarze Künstler als Resultat der Bürgerrechtsbewegung seit den siebziger Jahren immer wieder Rassismusthemen auf Bühnen, Leinwände und in Galerien gebracht, der Feminismus bescherte den New Yorkern die Guerilla Girrls; und die Act-up-Aktivisten brachten das Thema Aids in die Kulturtempel.

Betroffenen-Kunst ist in den USA auch deshalb so beliebt, weil Sponsoren, Kulturstiftungen und öffentliche Geldgeber ihre Spenden gern mit einem nachweisbaren Nutzen verbunden sehen. Und wo wäre das Geld sozialverträglicher angelegt als in einem aufklärenden Theaterstück über Aids, einem antirassistischen Filmfestival über Black American Cinema oder einem therapeutischen Musikprogramm für Drogenabhängige, wie es zum Beispiel die Philharmonie von Fort Wayne in Indiana anbietet? Andererseits gerät gerade diese Art von Kunst immer wieder ins Schußfeld der Konservativen. Republikaner wie Jesse Helms oder neuerdings auch Repräsentantenhaus-Sprecher Newt Gingrich wettern in ihren populistischen Reden gern gegen „staatlich geförderte Pornographie“ oder gegen „kulturelle Eliten, die das Geld der Steuerzahler verschlingen“. So sehen sich denn auch viele Künstler im Wettstreit um die begehrten „Grants“ unter dem zunehmenden Druck, nützliche Kunst zu machen. Denn nur wer ins aktuelle sozialpolitische Programm paßt und nicht das sittlich- moralische Empfinden des Durchschnittsamerikaners verletzt, hat Chancen auf Förderung – besonders seit der Drohung der Republikanermehrheit, die Mittel der nationalen Kulturförderung NEA (National Endowment for the Arts) drastisch zu kappen (siehe taz vom 8.2. 1995).

Werbeträchtige Tabuverletzungen

Andere wiederum nutzen die Kontroverse für ihre Zwecke. So spielt der Tattoo-Künstler Ron Athey vor vollen Sälen, seit seine rituellen Piercing-Performances vom konservativen Christian Action Network als sittenwidrig und gesundheitsgefährdend gegeißelt wurden. Über den künstlerischen Wert der Veranstaltung, bei der Athey unter anderem einem HIV-positiven Performance-Partner auf der Bühne Muster in die Haut ritzt und blutige Kleenex-Tücher an Wäscheleinen aufhängt, läßt sich dabei streiten. „Nach dem anfänglichen Schock bleibt schließlich nur noch der Eindruck einer klinisch sauberen Sado-Maso-Show“, schrieb ein Kritiker der New York Times. Doch dank der christlichen PR – da war von „aidsblutbetropften Zuschauern“ und einer „Kriegserklärung ans amerikanische Volk“ die Rede – waren Atheys Vorstellungen im legendären P.S. 1 in New York bis auf den letzten Platz ausverkauft. Zur Sicherheit des Publikums wurden die Shows dann von einem extra angeheuerten Ärzteteam überwacht – „Victim Art“ mit Schutzbrief.

Arlene Croces Schrei nach weniger Weinerlichkeit in der Kunst scheint angesichts solcher Szenen nachvollziehbar. Die Videokünstlerin Mary Bosakowska störte sich jedoch an Croces Begriff der „Opfer-Kunst“. „Was heißt das eigentlich? Ich kenne Aidskranke, die wunderbar komische Stücke schreiben, und ich kenne gesunde Künstler mit furchtbaren Arbeiten.“

Auch die Schriftstellerin Joyce Carol Oates kann nichts Verwerfliches daran finden, wenn Künstler ihr eigenes Leid oder das ihrer Mitmenschen in ihrem Werk umsetzen. „Es gibt eine lange und ehrenwerte künstlerische Tradition, die das Zeugnis menschlichen Leids in sich trägt“, schrieb sie kürzlich in der New York Times. In ihrer Erwiderung auf Arlene Croces „Victim Art“-Verriß zählte sie von Hieronymus Bosch über Emily Dickinson bis zu Anne Frank eine lange Reihe von geschätzten „Opfer“-Künstlern auf, um dann zum Gegenschlag gegen die konservative Kritik auszuholen. „Ms. Croces Cri de Coeur ist vielleicht nichts weiter als das beispielhafte Eingeständnis des Bankrotts des alten Kritikervokabulars, das sich mit den immer wieder neu entstehenden Formen der Kunst konfrontiert sieht“, meint Oates.

Tatsächlich macht Croce in ihren regelmäßigen Tanzkritiken keinen Hehl daraus, daß sie auch beim Modern Dance ästhetische Traditionen schätzt. Ihre Liebe gilt modernen Klassikern wie Merce Cunningham oder George Balanchine. In den späten Siebzigern gehörte auch Bill T. Jones noch dazu. Aber als die postmodernen Choreographen begannen, „das Publikum einzuschüchtern“ und „den Kritikern den Krieg erklärten“, da war es mit der Liebe aus. Arlene Croce verglich ein Jones-Stück angewidert mit einem fiebrigen Sumpf. Jones konterte, indem er sein nächstes Stück „Fiebersumpf“ nannte. Die Schlacht hatte begonnen.

Warholismus und das Ende der Kritik

Für die Popkultur der siebziger und achtziger Jahre kann Croce nur Abscheu empfinden. Der „Warholismus“ habe mit seinen „trash-into-art-Transformationen“ den Bedarf an „ernsthafter Kritik“ zunichte gemacht, klagt Croce und enthüllt damit ganz nebenbei einen tieferen Beweggrund ihrer Abrechnung mit der modernen Kunst: den Mangel an Respekt. Die Kritikerin als Hüterin des kulturellen Schatzes fühlt sich ignoriert und schnappt deshalb zu. Ein altbekanntes Muster: Als 1913 in New York erstmals moderne europäische Maler auf der legendären Armory-Show gezeigt wurden, hatten die professionellen Kritiker für die Meisterwerke von Gauguin, Van Gogh, Cézanne, Matisse, Picasso und Braque nur Hohn und Spott übrig. Duchamps Readymade „Fontaine“, jenes anstößige Pissoir, mußte sogar aus der Ausstellung entfernt werden. Heute zieren viele der damals geächteten Werke als Schmuckstücke das New Yorker Metropolitan Museum of Art.

Des Kritikers größtes Problem scheint in Croces Fall offenbar die emotionale Seite des Kunsterleb

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nisses zu sein. Arlene Croce gibt in ihrer vernichtenden Nicht-Rezension zu, daß sie Angst davor hat, „manipuliert“ zu werden. Der „Zwang, Mitleid zu empfinden“, mache Stücke wie „Still/Here“ für sie „undiskutierbar“. Als hätte Kunst – die wirkliche, fesselnde zumindest – nicht immer mit Manipulation zu tun. Welcher Opernfreund wollte schon seine Ergriffenheit leugnen, wenn Puccinis Titelheldin Tosca nach ihrer bewegenden Ode an die Liebe im Schlußakt in den Tod springt? Und wer könnte Francis Bacons Lebensgeschichte allen Ernstes von seinen schmerzlich-verzerrten Bildern trennen?

„Wenn ein Maler ein Bild mit seinem eigenen Blut malt, was kümmert es dann, wenn ich denke, es ist kein gutes Bild?“ fragt sich indes die New Yorker-Kritikerin. „Der Künstler blutet zu Tode, und nur darum geht's.“ What a pity, warum in aller Welt kann sie nicht sagen, daß ihr das Bild nicht gefällt? Ist es doch gerade das, was Kritiker ausmacht – die Fähigkeit nämlich, gute Kunst von der weniger guten zu unterscheiden, egal ob sie nun von einem Kerngesunden oder hoffnungslos Kranken stammt. Doch Arlene Croce hat schon eine Stufe vorher das erste Gebot des Kritikers – „Du sollst nicht besprechen, was du nicht gesehen hast“ – aufs gröbste mißachtet. Sie wußte wohl nur zu genau, daß sie nicht mehr hätte schreiben können, was sie im New Yorker schrieb, wäre sie damals zur Vorstellung in die Brooklyn Academy of Music gegangen. Mit ihrer Verweigerung, Bill T. Jones' Stück zu sehen, wollte sie ihre vorgefaßte Meinung vor dem Realitäts-Check bewahren.

Dornröschen in der Großstadt

Auch ich habe Bill T. Jones' Stück (noch) nicht gesehen und habe nicht die Absicht, es hier zu besprechen. Zum Schluß statt dessen die Kritik von einem, der „Still/ Here“ gesehen hat: „Es ist gar nicht so schwer, eine Verbindung zwischen dem Ballett mit der Prinzessin, die sich an einer vergifteten Spindel sticht, und dem über einen Großstädter, der sich an einer Spritze infiziert, zu sehen“, schreibt Rob Costin in einem Brief an Arlene Croce. „Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, zur Vorstellung eingeladen worden zu sein. Ich habe außerdem das zweifelhafte Vergnügen, HIV-positiv zu sein. Letzteres hielt mich nicht davon ab, ,Still/Here‘ nicht zu mögen. Die Musik war ermüdend, das Video paßte nicht zur Choreographie. Dennoch, der Tanz war großartig, und während der ersten Minuten, bevor die Elektronik einsetzte und auf der Bühne nur Tänzer waren, mußte ich weinen.“ Wer wollte ihn dafür kritisieren?

P.S.: Bill T. Jones selbst möchte sich zu der Kontroverse nicht äußern, weil er dem Begriff „Victim Art“ nicht noch weiteres Gewicht geben will. Dem Nachrichtenmagazin Newsweek sagte er lediglich: „Kunst gibt es auch ohne Kritiker, aber es gibt keine Kritiker ohne Kunst.“