■ Interview mit dem Soziologen Alain Touraine über den Mitterrandismus und den Tod der Sozialistischen Partei
: „Sein Staat hat alles aufgefressen“

Der Soziologe Alain Touraine ist einer der führenden Sozialwissenschaftler Frankreichs. Die Themen seiner zahlreichen Veröffentlichungen reichen vom utopischen Kommunismus (über den Mai 68) und die postindustrielle Gesellschaft bis hin zu der Frage: „Was ist Demokratie?“ (1994) Touraine, der im August 70 Jahre alt wird, hat an zahlreichen Universitäten in Frankreich, den USA und in Lateinamerika gelehrt. Heute arbeitet er an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales“ in Paris. Er bezeichnet sich selbst als Anhänger des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, und des ehemaligen französischen Premierministers Michel Rocard, die beide der Sozialistischen Partei angehören.

taz: War der Mitterrandismus erfolgreich?

Alain Touraine: Der Mitterrandismus ist eine politische Bewegung mit dem Ziel, Mitterrand an die Macht zu bringen. Das ist 1981 und 1988 gelungen. Damit ist der Erfolg komplett. Mitterrand war 14 Jahre lang Präsident der Republik und seine persönlichen Freunde haben 14 Jahre lang angenehme Positionen innegehabt, die ihnen Macht und manchmal auch Geld verschafft haben.

Welche Spuren hinterläßt Mitterrand in Frankreich?

Das Zusammentreffen der französischen Gesellschaft und der mitterrandistischen Macht ist ein purer Zufall. Mitterrand hatte festgestellt – und das war eine korrekte Analyse –, daß die alte Linke die einzige starke Alternative gegenüber dem Gaullismus war. Das bedeutete eine zentrale Rolle des Staates, der im Namen der Arbeiter spricht und sich gegen die Kapitalisten richtet. Die Fragen der internationalen Wirtschaft, der europäischen Konstruktion, der Transformation der Beschäftigung und des Anstiegs der Arbeitslosigkeit, die Anfang der 80er Jahre offensichtlich waren, hat er nicht gestellt. Es gibt zwei Dinge, die Mitterrand überhaupt nicht interessieren: die Wirtschaft und die Gesellschaft.

Sein Wahlslogan vor 14 Jahren hieß aber doch: das Leben ändern.

Ja, ja. Das war ein maximalistischer Diskurs, der schlicht bedeutete: Mitterrand wählen! Er hatte ein gesellschaftliches Gegenmodell im Stile von 1920 (der Gründung der französischen Kommunistischen Partei) oder vielleicht 1936 (der Volksfrontregierung). Er hat Frankreich genommen, wie die Gaullisten das rechts getan hatten. Er ist die Allianz mit den Kommunisten eingegangen, mit Nationlisierungen zu hundert Prozent – in einem Land, das überhaupt nicht kapierte, was passierte. So kam er 1981 mitten in der Krise an die Macht.

Die Unterstützung hat aber schnell nachgelassen.

Schon sechs Monate später verkehrte sich die öffentliche Meinung in ihr Gegenteil. Citroän und Peugeot standen am Rande der Schließung, Renault zwei Jahre später. Das war eine Katastrophe. Der große Boom der Weltkonjunktur zu Anfang der 80er Jahre ging an Frankreich völlig vorbei. Es war ganz mit sich beschäftigt, mit den öffentlichen Diensten, den Monopolen, den Korporationen, der Öffnung nach Europa, der internationalen Konkurrenz, den neuen Technologien. Mitterrand zögerte lange. Das Jahr 82 verging über der Frage, ob der Voluntarismus weitergehen könne. 1983 beschloß er, auf den europäischen Zug zu setzen. Unter Bedingungen, die nicht mit den deutschen verglichen werden können. Man betrieb Wirtschaftsliberalismus wie beim IWF.

Was hat das mit linker Politik zu tun?

Die mitterrandistische Vision ist rein politisch. Das ist die alte französische, jakobinische Vision, wonach der Staat alles macht. Die anderen sagten, es gibt ein internationales Klima, einen internationalen Kontext, die Liberalisierung der Wirtschaft. Das muß man akzeptieren und man muß unter diesen Bedingungen die Verhandlungsfähigkeit der Gewerkschaften stärken. Das wurde von Mitterrand völlig eliminiert. Die erste Linke ermordete die zweite, die Gefolgsleute des damals bereits verstorbenen Pierre Mendès.

Was ist Mitterrands politische Bilanz?

Ich glaube, daß ab 83 keine mitterrandistische Innenpolitik mehr stattfand. Seine Außenpolitik dauerte viel länger – bis 89, als der Prozeß der deutschen Wiedervereinigung begann. Ab dem Moment wußte die französische Außenpolitik – die von de Gaulle bis Mitterrand immer dieselbe war – nicht weiter. Seither gibt es weder Innen- noch Außenpolitik. Was es gibt, ist Strukturanpassung. Alle Regierungschefs unter Präsident Mitterrand – egal ob Fabius, Balladur, Rocard oder Bérégovoy – haben versucht, die schlechtlaufende Wirtschaft wieder zu beleben. Und sie waren damit ziemlich erfolgreich. Aber das paradoxe Resultat dieser Regierung der alten Linken ist der Triumph der neuen Rechten und das Verschwinden der Linken. Es gibt keine Gewerkschaften, es gibt keine Verhandlungen mehr, es gibt überhaupt keine sozialen Kräfte mehr.

Hat Mitterrand Ihres Erachtens überhaupt Positives gebracht?

Es gibt Dinge, die er mit Ehrlichkeit betreibt. Erstens die Reformen von Justizminister Badinter – die Abschaffung der Todesstrafe und der Hochsicherheitstrakte und die Reform des Strafrechts – zweitens die Liberalisierung des Fernsehens und drittens das Gesetz der Dezentralisierung. Das ist sehr wichtig bei Mitterrand. Denn er ist ein Provinzler, der die Dezentralisierung gern mag, weil er über seine kleine lokale Macht hochgekommen ist. Bei den anderen Fragen ist er ein Mann der Dritten Republik geblieben, ein Mann des 19. Jahrhunderts, ein Zeitgenosse von Clemenceau und Aristide Briant.

Welche Elemente in der französischen Gesellschaft haben diese Entwicklung möglich gemacht?

Da gab es die Verbindung von zwei Kräften: die alte Linke und die Elemente, die modernisieren wollten. Ein sehr wichtiges davon, fast entscheidend für den Sieg von 81, ist ein starkes Umschwenken auf die Linke im Westen Frankreichs und ein wenig auch im Elsaß. Das waren Leute, die die landwirtschaftliche Welt modernisiert haben, die sich gegen das alte Frankreich schlugen, die alten Eigentümer, die Reglementierung, den Zentralismus. Gruppen, die eine regionale und kommunale Entwicklung wollten, die ihre Stadtteile verteidigten. Dieses moderne Frankreich hat die Linke gewählt. Aber die mitterrandistische Linke hat sie zerschlagen und die Transformation blockiert. Sie sind die Getäuschten.

Wie würden Sie den Zustand der heutigen französischen Gesellschaft beschreiben?

Frankreich ist ein Land, das heute keine sozialen Kräfte und keine politischen Projekte hat. Das ist alles aufgesaugt worden vom Mitterrandismus, der die Vergangenheit wiederbelebt hat. Die französische Linke hat 20 Jahre lang die Revolution von Petrograd von 1905 vorbereitet. Aber was ist das für eine Linke, was ist das für eine Freiheit, was für ein soziales Leben heute? Das ist das wahre französische Problem. Vor 20 Jahren hatten wir – wie andere – eine Anti- AKW-Bewegung, eine Frauenbewegung. Mitterrands Staat hat das alles aufgefressen.

Warum ist Mitterrand 1988 trotzdem wiedergewählt worden?

Weil es niemand anderen gab. Ich gehöre wirklich nicht zu seinem Hofstaat. Aber man muß ihn bewundern. Diese mitterrandistische Welt ist eine Welt, die der französischen Gesellschaft fremd ist.

Wie finden Sie die gegenwärtige Präsidentschaftskampagne?

Das ist die niveauloseste Kampagne, die wir je hatten. Sie ist unwichtiger als ein Fußballspiel von OM gegen PSG. Bei den Wahlen von 1981 hatte man das Gefühl, man könnte zwischen zwei Typen von Gesellschaft wählen.

Ist auch das Mitterrands Erbe?

Das ist die direkte Konsequenz des Widersinns. Wenn Sie Ihren Kindern Englisch beibringen und sie dann auf eine deutsche Stadt loslassen, können die sich natürlich nicht verständigen. Mitterrand hat uns eine Linke des 19. Jahrhunderts vorgesetzt. Wir sind aber am Ende des 20. Und diese Linke hat dazu nichts zu sagen. Die Rechte aber wohl.

Ist Frankreich heute eine entpolitisierte Gesellschaft?

Nein, überhaupt nicht. Es ist eine Gesellschaft, die einen Mangel hat. Jedes Mal, wenn man einen Ersatz bietet – ein politisches Methadon –, stürzen sich die Leute da drauf. Ob es das Humanitäre ist oder eine politische Auseinandersetzung mit Aids.

Was wird nach Mitterrand aus der Sozialistischen Partei?

Die Sozialistische Partei ist tot.

Warum unterstützen Sie trotzdem den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin?

Er ist nicht Kandidat der PS, sondern der demokratischen Linken. Und die muß wiederaufgebaut werden. Bei einer totalen Niederlage der glaubwürdigen Linken, werden die Dinge noch schwieriger. Ich persönlich sage den Leuten der neuen Generation: Macht eine hübsche Beerdigungszeremonie und fangt neu an.

Ist Jospin auch ein Toter?

Natürlich – wenn auch ein sehr dezenter. Und alle wissen es. Er hat eine unmögliche Mission. Ich möchte, daß er gewinnt. Und ich werde im ersten und im zweiten Durchgang für ihn stimmen. Aber seien wir ernsthaft: Es gibt niemanden in Frankreich, der glaubt, daß er gewinnt. Nicht einmal Delors, der Vorsitzende seines Unterstützerkomitees. Auch er weiß, daß die Partei tot ist, und daß Jospin keine Chance hat.

Interview: Dorothea Hahn/Paris