Primavera – erstes Grün

Rauchende Brombeerhecken und emsiges Motorsägen erfüllen die Hügel und Täler, wenn die Toskana südlich von Florenz aus dem Winterschlaf erwacht. Frostige Temperaturen sind normal  ■ Von Christine Berger

Ein herrlicher Tag, 16 Grad im Schatten und wolkenloser Himmel. Es scheint gerade so, als habe der Frühling am Rande der Chianti-Berge endgültig den Durchbruch geschafft. Noch vor zwei Tagen war die Wasserpumpe eingefroren gewesen, und auf dem Ententeich lief das Federvieh Schlittschuh. Jetzt erinnern nur noch die Schneegipfel des nahe gelegenen Prato-Magno-Gebirgszuges an den Winter. Die bloßgelegten Poren unserer gelben Großstadthaut saugen die Sonnenstrahlen gierig auf.

Das Auftanken hat sich gelohnt, schon am nächsten Tag beginnt es wieder zu stürmen, und in den nächsten sechs Wochen wird sich kein einziger Tag mehr zum Sonnenbad eignen. Nicht umsonst ist der Ort, in dessen Nähe wir wohnen, nach einem Wetterheiligen benannt. San Pancrazio ist ein sturmumwehtes Nest, und an manchen Tagen, wenn Regen und Wind jeden Ausflug zu Fuß mit einem Schnupfen bestrafen, fragt man sich ernsthaft, ob man nicht in die falsche Richtung gefahren und aus Versehen in Schottland gelandet ist.

So schnell wie der Regen kommt, ist er auch wieder verschwunden. Oft dauert es nur ein paar Tage, bis der Wind das Land dermaßen ausgetrocknet hat, daß der Boden auf den Weinäckern schon wieder erste Risse zeigt. Nur das satt gefüllte Flußbett des Arno zeugt dann von Wasser in Hülle und Fülle. In Florenz haben die Rudervereine im Frühjahr Hochsaison. An Nachmittagen ziehen unter der Ponte Vecchio gleich dutzendweise Boote mit keuchenden Sportlern vorüber. Alle Spötter, die sagen, Florenz habe keinen Fluß, sondern eine Regenrinne, werden im Frühjahr eines Besseren belehrt.

Verregnete Tage eignen sich prima, um in Ruhe die Museen der Region zu entdecken. Selbst die Uffizien in Florenz sind, abgesehen von den Osterferien, begehbar, ohne sich vom ewigen Schieben und Drängeln vor Botticellis „Geburt der Venus“ blaue Flecken zu holen. Die Altstadt von Florenz wirkt seltsam gelassen, und man kann tatsächlich echte Florentiner auf dem Weg zur Arbeit beobachten. Im Sommer wäre das unmöglich angesichts der unzähligen Busgesellschaften, die sich jeden Tag durch die Straßen schieben.

Natürlich gibt es auch Tage, an denen man herrlich wandern gehen kann, ohne Wind und Wetter in die Arme zu laufen. An solchen machen wir einen großen Bogen um die Städte und laufen, mit Wanderkarte und Proviant ausgerüstet, einfach los. Freudig werden die lila Veilchen am Wegesrand begrüßt, Jasmin und Mandelbäume betäuben mit ihrem Blütenduft – der ganze Kitsch der Frühlingslyrik will einem über die Lippen sprießen vor Begeisterung. Zu allem Überfluß läuft einem noch eine Wildschweinfamilie mit frischen Frischlingen über den Weg, das Glück der Großstädter ist perfekt.

Für Betty, unsere Vermieterin, bedeuten solche Wonnetage vor allem Arbeit. Von morgens bis abends steht sie auf dem Acker, düngt die Olivenbäume mit Pferdemist und Hühnerkacke, sät Möhren und Artischocken. Torno, der auf ihrem Land die Holzwirtschaft übernommen hat, läßt derweil der Motorsäge kaum eine Chance zum Abkühlen. Jede Stunde, die es nicht regnet, wird genutzt, um den Krüppeleichen, Kastanien und Buchen an den Kragen zu gehen. Selten werden ganze Bäume abgesägt. Wurden von einem Stamm ein paar Äste genommen, darf die Kreatur sieben Jahre nicht wieder angerührt werden. Die Förster der Region seien sehr streng, den Bäumen schade das kaum, versichert Betty. Trotzdem beschleicht uns an jedem Abend, an dem wir unseren Kamin mit Holz füttern, ein schlechtes Gewissen.

So hat jeder schöne Tag zwei Seiten. Nach einigen Wochen haben sich die Hügel der Umgebung kräftig gelichtet. Mitte März sägen die Holzfäller sogar an bewölkten Tagen, denn die Schonzeit naht. Im April darf keinem Baum mehr auf die Rinde gerückt werden. Das Kreischen der Motorsägen, einem typischen Wintergeräusch in der Toskana, verstummt urplötzlich. Das Zwitschern der frühlingsverliebten Vögel bleibt endlich ungestört.

Wären da nicht die unzähligen Feuer, die den Nestbauern die Luft zum Piepsen nehmen. Was im Sommer streng verboten ist, nämlich das Zündeln, betreiben die Bauern um so intensiver in der feuchten Jahreszeit. Besonders den widerspenstigen Brombeerhecken, die ohne Gegenwehr gnadenlos alles zuwuchern, geht es mit Zunder an die Dornen. An manchen Tagen liegt der Rauch wie Nebel über dem Tal – für die Toskaner ein weithin sichtbares Zeichen dafür, daß gearbeitet wird.

Wem das rauhe Bergklima zu schwer auf der Lunge liegt, fährt ans Meer. 120 Kilometer sind es bis zur Küste südlich von Livorno, eine Entfernung, die den Sommer mit dem Winter auf wundersame Weise verbindet. Sobald die letzten Hügel der Colline Metallifere hinter einem liegen, lohnt es sich, das Fenster herunterzukurbeln. Der laue Wind vom Meer weckt Erinnerungen an den vergangenen Sommer, an Artischockenlikör in der Strandbaude und Hitzeflimmern über dem Horizont.

Am Golfe di Baratti ist es auf den ersten Blick tatsächlich so mediterran, wie es die Ansichtskarten aus der Gegend versprechen. Azurblauer Himmel schmückt das türkisfarbene Meer, der Pinienhain wiegt sich leise im Wind. Wir mieten uns für drei Tage im einzigen Hotel der Bucht ein und erobern den Strand. Doch bald macht sich Ernüchterung breit. Der Sand ist übersät vom Müll der Schiffe auf dem Meer. In der Nebensaison macht hier augenscheinlich niemand aus der Gemeinde den Buckel krumm, um die unzähligen Turnschuhe, Plastikflaschen und Ölkanister einzusammeln. Den vielen Teerklumpen nach zu urteilen, muß vor der Küste neulich ein Tanker einen Teil seiner Last verloren haben. Wahrscheinlich wurde das Schiff aber „nur“ ausgewaschen, wie uns später ein Lido-erfahrener Zeitgenosse erklärt.

Einen verklärten Blick auf die Bucht bietet der Burgturm des malerischen Populonia, einem Dorf, das seit Etruskerzeiten auf der Klippe über dem Golf ein Leuchtturmdasein fristet. Von hier oben ist der Blick entlang der Küste atemberaubend. Die Fischerboote im Hafen der Bucht sind so winzig wie Mikroben, vom Zivilisationsmüll keine Spur.

Keine Ahnung, wer sich in den Kopf gesetzt hat, an der Küste eine Autobahn zu initiieren, jedenfalls scheint sie nicht besonders beliebt zu sein. Auf der Strecke zwischen Cecina und Suvereto sind wir weit und breit das einzige Auto, das von der nagelneuen Superstrada Gebrauch macht. Im Sommer, vermuten wir, stauen sich hier vielleicht die Wohnwagen aus Deutschland, im Frühjahr jedoch könnten sie hier glatt Radieschen pflanzen. Die riesigen Autobahnauffahrten erinnern an häßliche Pendants in Los Angeles, und man wird sich wieder mal darüber klar, daß die Menschheit weltweit unter einem Überfluß an Betonmischmaschinen leidet.

Zurück in den Hügeln der Toskana, bläst der frische Bergwind sämtliche Sommerimpressionen wieder davon. In den Colline Metallifere ist es mindestens 10 Grad kälter als am Meer. Wir holen die Rollkragenpullover wieder hervor und schalten die Autoheizung an. Die satten Farben der immergrünen Vegetation an der Küste wechseln wieder mit den Brauntönen der Krüppeleichen, die sich erst dann von ihren alten Blättern trennen, wenn den neuen ein laueres Lüftchen garantiert wird. Als wir bei Larderello um die Kurve biegen, durchkreuzen auf einmal riesige, metallene Rohre die Landschaft. Kreuz und quer, so als hätte ein Landartist sehr eigensinnig die Gestaltung übernommen, laufen die silberfarbenen Röhren über Kilometer bergauf und bergab. Ein riesiger dampfender Kessel bildet in Laderello das Zentrum der Geothermik. Hier spuckt die Erde so viel heißen Dampf aus, daß sämtliche Orte und Treibhäuser der weiteren Umgebung damit heizen können. Nicht nur in Laderello brodelt es in der Erde, weshalb die Toskana mit einem Haufen natürlich beheizter Thermalbäder aufwartet. Nur sind leider gerade zu Beginn des Frühlings, wenn ein heißes Bad inmitten frostiger Temperaturen das Paradies bedeuten könnte, viele geschlossen. Bleibt nur das öffentliche Wannenbad in Montevarcchi, doch so weit geht die Liebe zum heißen Wasser dann doch nicht, daß wir wie zu alten Zeiten mit Handtuch und Seife an der Bademeisterin vorbeimarschieren.

Wochenlang wohnen wir am Rand von San Pancrazio in der Annahme, in der Mitte des Dorfes ginge ein Rosenzüchter seinem Hobby nach. 75 Rosen stehen, mit Namen versehen, am Westhang Spalier, alle sorgfältig gepflegt und mit zarten Knospen versehen. Doch von Rosenzucht kann keine Rede sein. Die Reihen wurden vor zehn Jahren angelegt, um der toten Männer des Dorfes zu gedenken, die im Juni 1944 von deutschen Soldaten ermordet wurden. Grund war der Tod zweier Landsleute, die in der Nähe des Dorfes von Partisanen umgelegt worden waren. Dafür mußte dann ein ganzes Dorf büßen. Alle Männer wurden ermordet, sämtliche Häuser niedergebrannt.

An die entsetzlichen Geschehnisse erinnert heute eine Ausstellung im dem Haus, wo die Männer erschossen wurden. Eiskalt läuft es einem über den Rücken, wenn Anna, die Tochter der Ladenbesitzerin Romana, einen durch die kalten, feuchten Räume führt. In fünf Bildern hat ein Künstler die Geschichte von der Verhaftung der Männer bis zu ihrer Hinrichtung festgehalten. Anna, die in Florenz Amerikanistik studiert, versucht mit einigen Dorfbewohnern zusammen die Erinnerung an den Massenmord aufrechtzuerhalten. Zum fünfzigsten Jahrestag im vergangenen Jahr gab es Geld für eine Gedenkwoche, von der sie heute noch schwärmt. Konzerte, Lesungen und der Besuch von alliierten Soldaten aus Kanada rückten die Geschichte von San Pancrazio wieder ins öffentliche Bewußtsein. Jetzt ist das alles Schnee von gestern, und kaum noch einer redet davon, Geld für das alte Gemäuer zu geben, das dringend eine Renovierung braucht.

Das Interesse für dieses Kapitel in der Geschichte der Toskana beginnt in uns von nun an im gleichen Maße zu wachsen wie die Empörung darüber, daß in keinem Reiseführer etwas über das Morden der Deutschen steht. Geschichtlich, so die offensichtliche Auffassung der Verlage, scheinen sich Toskanareisende nur für die Etrusker und die Medici-Familie zu interessieren. Ein Irrtum, dem man mit Recherchen auf eigene Faust begegnen sollte.

Über die Greueltaten, die Hitlers Wehrmacht 1943/44 in der Toskana und in Umbrien verübte, informiert das neue Buch des Historikers Friedrich Andrae: „Auch Frauen und Kinder“, erschienen im Piper Verlag, 45 DM