„Seid Ihr alle da?“

Bemerkungen zum grassierenden Fernseh-Infantilismus der Erwachsenen  ■ Von Harry Nutt

Das Fernsehprogramm, gleichgültig, ob öffentlich-rechtlich oder privat, ist eine ergiebige Quelle für den Kulturpessimisten in uns. Täglich findet man Nahrung für die Ansicht, daß alles nur noch schlimmer wird. Power Rangers starten den Frontalangriff auf das Wahrnehmungsvermögen unserer Kinder, und Eltern mit Therapiegruppenerfahrung wissen konkrete Beispiele von den Auswirkungen der Bildschirmgewalt auf die Kleinen beizusteuern. Medienwissenschaftler bekräftigen derlei Heimempirie mit stattlichem Zahlenmaterial über Verletzte und Tote schon vor der „Tagesschau“.

Widerspruch wird mit Exkommunizierung aus der Sprechergemeinde bedroht. Die Redefigur des „Immer mehr und immer schlimmer“, die ich zu verdächtigen gelernt habe, ist mir daher recht und billig, auf der Kehrseite einen auffälligen Hang zum Infantilen im Fernsehen zu notieren. Damit ist nicht Käpt'n Blaubär gemeint, dessen Lügengeschichten als aufgeklärte Erzählarbeit zu adeln sind. Drei kleine Enkel als Zuhörerschaft, das scheint als Rahmung prima zu funktionieren. Zum Kindischen im Fernsehen gehören auch nicht Earl Sinclair und seine Dinofamilie. Die Darbietungen der altehrwürdigen Augsburger Puppenkiste schließlich waren zu keiner Zeit unbotmäßiger Albernheit zu überführen.

In meine kleine Sammlung regressiver Fernsehtendenzen gehört indes die Toyota-Werbung mit dem Tiersprech, die auf Sat.1 eine eigene Sendung hatte und im ARD-Vorabendprogramm bald als Prominentenquiz daherkam. Daß die Werbung sich des Infantilen bemächtigt, verwundert nicht weiter. Haben die Reklamemacher bei Mathias Horx nachgeschlagen, der das Infantile ganz oben auf seiner Trendliste führt? Das Wiedererkennen primärer Entwicklungsschritte dürfte diesbezüglich eine Quelle des Lustgewinns sein. Das Phänomen ist keine Erfindung der jüngsten Fernsehunterhaltung, und die Erscheinungsformen sind äußerst vielfältig.

Aus der Gattungsgeschichte der Show fällt mir Hans Rosenthals kühner „Dalli-Dalli“-Sprung mit seinem schmetternden „Das ist Spitze!“ ein. „Dalli-Dalli“ markiert möglicherweise einen Übergang von der Abfragesituation des Quiz zur Game-Show mit ihrer ungebändigten Lust am Unsinn. Freud verortet deren Entstehen in der Spracherwerbsphase, in der das Kind den Wortschatz der Mutter zu handhaben lernt, aber Vergnügen daran findet, spielend damit zu experimentieren. Bei „Dalli-Dalli“ mußten immer noch Begriffe erraten werden, aber wieviel war bereits wichtiger als was. Hänschen (!) Rosenthals Sprung drückt denn auch keine Begeisterung aus. Es ist vielmehr der Versuch, Begeisterungsfähigkeit unter körperlichem Einsatz vorzuführen. Das kann schiefgehen.

Um nicht mißverstanden zu werden, flüchten sich Fernsehmenschen gern in die Alles-nur-Spaß- Attitüde. Der Ausdruck einer Regung fällt zusammen mit ihrer sofortigen Zurücknahme. Thomas Gottschalk und sein Freund Jauch haben diese Technik zum Erkennungszeichen ihrer Gesprächsführung gemacht. Ihre sprachlichen Anstrengungen scheinen immerfort den Wunsch zu äußern, in die Kindertage zurückkehren zu dürfen. An Wolfgang Lippert war aufmerksamen Beobachtern der Drang aufgefallen, seine Gäste zu umarmen oder anzufassen. Bisweilen stieß er dabei orgiastische Juchzer aus. „Wetten, daß ...?“ enthält weitere Merkmale von Fernsehinfantilismus. Während die Wettkandidaten mehr oder weniger einen Aspekt ihrer Alltagswelt auf die Showbühne transformieren, sind die professionellen Showstars zum Zuschauen verbannt. Das birgt Rollenkonflikte.

Boxstar Maske fragte bezüglich eines fehlgeschlagenen Gottschalk-Scherzes sichtlich irritiert: „Thommie, wieso bringst du mich jetzt ins Spiel?“ Nur widerwillig stieg er anschließend zur Wetteinlösung mit Terence Hill zum Simulationskampf in den Ring. Wo es für die Wettkandidaten tatsächlich um etwas geht, setzen sich die Prominenten in erster Linie der Lächerlichkeit aus. Am Ende war's freilich nicht so gemeint.

Ein schwerer Fall von Kinderei sind die verschiedenen Karaoke- Versionen wie die „Mini-Playback-Show“, „Kinderquatsch“ oder „Dingsda“, wobei klargeworden sein dürfte, daß Infantilität nicht daran gebunden ist, daß Kinder vorkommen. Vorzugsweise werden die lieben Kleinen auf einem Parkett vorgeführt, auf dem sich in der Regel auch die Großen schwertun. Wenn Kanzler Ko. aus dem Stegreif die Größe von Dichter Ernst Jü. erläutert, dann unterscheidet sich das nicht von einer Dingsda-Umschreibung. Aus Wortspielen im Fernsehen wäre also auch zu lernen.

In der Frühgeschichte des Mediums hat die versteckte Kamera manch skurrile Alltagsbegebenheit hervorgezottelt. Aus der Verhaltensunsicherheit dem Kuriosen gegenüber entsteht nicht selten Komik. Trotz gewisser Abnutzungserscheinungen ist das Prinzip Versteckte Kamera nicht per se infantil. „Pleiten, Pech und Pannen“, das weitgehend in Heimarbeit entsteht, rückt wegen eines auffälligen Originalitätszwangs auf unsere Liste. Videofreunde schicken ein, was sie für allgemeinen Humor halten. Wie komisch das ist, darüber wissen die Redakteure solcher Sendungen vermutlich ein Lied zu singen.

Zum heutigen Fernsehinfantilismus gehört die Bereitschaft zur hemmungslosen Entblödung. Die Tyrannei der Fernseh-Intimität hört nicht bei Schreinemakers' Betroffenheits-Talk auf, sondern findet Fortsetzung in diversen Aufführungszwängen, um jene Warholsche Viertelstunde Berühmtheit. Im Kindischen wird eine Rückzugsmöglichkeit vom Rotlicht der Kamera erblickt. In den Game-Shows zerreißen starke Männer Telefonbücher und Frauen mit Pippi-Langstrumpf- Zöpfen brüllen „Kiste“ oder „Umschlag“, um den „Zonk“ zu erhalten. Halbstarke Schönlinge lassen sich nach mißlungenem Strip von Emanzen ins Wasserbecken werfen, und in der öffentlich-rechtlichen Partnervermittlung wird keine Schlüpfrigkeit ausgelassen, um lockeres Sexualverhalten kundzutun.

Seit einiger Zeit macht sich die Freude am Witzigsein auch in Sendungen mit denotativem Charakter wie dem Wetterbericht und den Verkehrsmeldungen breit. In lokalen Verkehrsmeldungen bekommt man gesagt, wo die Polizei „Flitzerblitzer“ installiert, und die Kachelmänner der Sender befleißigen sich darin mitzuteilen, daß überall Wolken rumwuseln und sich auszunieseln beabsichtigen. Im ZDF- Frühstücksmagazin wirbt ein Multikulti-Gottschalk in Turnschuhen mit neckischen Witzchen um seine Kollegin, die sich angesichts dieser simulativen Anmache sichtlich unwohl fühlt.

Regressive Ausdrucksweisen sind kein Privileg der verschiedenen Spielshows. Fernsehen ist nicht auf Inhalt, sondern auf Performanz aus. Oft erreicht es dabei das Niveau des Komischen nicht. Genauere Unterscheidungen können bei Freud nachgeschlagen werden. Hier nur soviel: „Alle drei (Komik, Witz und Humor) kommen darin überein, daß sie Methoden darstellen, um aus der seelischen Tätigkeit eine Lust wiederzugewinnen, welche erst durch die Entwicklung dieser Tätigkeit verlorengegangen ist. Denn die Euphorie, welche wir auf diesen Wegen zu erreichen streben, ist nichts anderes als die Stimmung einer Lebenszeit, in welcher wir unsere psychische Arbeit überhaupt mit geringem Aufwand zu bestreiten pflegten, die Stimmung unserer Kindheit, in der wir das Komische nicht kannten, des Witzes nicht fähig waren und den Humor nicht brauchten, um uns im Leben glücklich zu fühlen.“

Am Fernsehen kann man kaum den Verfallsgrad der Kultur ablesen. Es läßt sich allenfalls beobachten, welche Schwierigkeiten es dem Medium (und seinen Nutzern) macht, erwachsen zu werden.