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Gedenkkulte etc.Blut geschwitzt

■ Vietnam-Gedenken mit McNamara

Der Frühling ist endlich in der Stadt. Zwischen den Wahrzeichen blühen die japanischen Zierkirschen, die Touristen fotografieren Touristen, gehorsam spiegelt sich im Reflecting Pool der große Obelisk. In Washington ist alles wie immer.

Robert McNamara gesteht, daß ihm jedesmal ganz traurig zumute wird, wenn er an der langen schwarzen Mauer vorbeikommt. Den patriotischen Amerikanern ist beim Vietnam Veterans Memorial nicht besonders feierlich. Sie schwatzen und lachen vor dem Denkmal für die Gefallenen des Vietnamkrieges, probieren den Spiegeleffekt aus, suchen unter den 58.156 Namen den eines Verwandten heraus. Kinder helfen einander mit der Affenschaukel hinauf, wenn sie oben einen der Namen mit Bleistift und Papier abpausen wollen. Einen nur, mehr als der Name ist nicht übriggeblieben.

„Dad“, schreibt ein Mädchen, „heute ist Dein 41. Geburtstag. Du bist schon so lange fort, und es ist so viel passiert in der Zwischenzeit. Mum ist vergangenes Jahr an Krebs gestorben, sie wird es also auch nicht mehr erleben, wenn ich nächstes Jahr mit dem College fertig werde. Dad, Du bist schon so lange fort, und ich hätte Dir so viel zu erzählen. Ich weiß nicht, ob Du es verstehen würdest. Ich fühle mich betrogen.“

Der Brief an den Vater pappt mit einer ekelhaften rosanen Masse am schwarzen Marmor, an einem der 58.156 Namen. Der Brief ist ein Formular, grob aus dem Rechnungsblock des Hard Rock Café in Washington gerissen, quer über einen Stempel geschrieben, nach dem im Endbetrag das Trinkgeld noch nicht enthalten sei.

Zwanzig Jahre sind es in diesem Frühjahr, daß in Vietnam der Friede ausgebrochen ist. Vor 27 Jahren hat Robert McNamara, der unter den Präsidenten Kennedy und Johnson dem amerikanischen Volk als Verteidigungsminister diente, sein Amt aufgegeben, um seine Laufbahn süß und ehrenvoll als Präsident der Weltbank zu beenden. Diese amerikanische Karriere begann bei den Ford- Werken in Detroit, wo McNamara vor allem das Zählen lernte. Der Ausstoß am Fließband zeigte die Wirtschaftskraft an. Im Verteidigungsministerium zählte McNamara weiter, am liebsten die getöteten Feinde. Wie anders hätten sich die Erfolge der Marines beziffern lassen? Mit dem body count wurde er berühmt, und noch heute besteht er auf seiner Methode: „Was man zählen kann, sollte man auch zählen.“

In seinem Buch „In Retrospect: The Tragedy and Lessons of Vietnam“ hat McNamara als erster der seinerzeit verantwortlichen Politiker eingestanden, daß Vietnam „ein furchtbarer Fehler“ war. Zwanzig Jahre nach dem Ende des nie erklärten Krieges, 25 Jahre nach den Weihnachtsbombardements von Hanoi, 30 Jahre nach den Protestmärschen fällt McNamara ein, daß alles, alles falsch war: die Domino-Theorie (Lyndon B. Johnson), der Glaube an die westliche Überlegenheit (Richard Nixon et al.), die Vorstellung, man müßte den schlitzäugigen Untermenschen zurück in die Steinzeit bomben (General Westmoreland). Für die schätzungsweise drei Millionen Vietnamesen, die dem Wahn des Zählfanatikers zum Opfer fielen, quält sich McNamara auf 414 Seiten genau einen Satz ab: „Die weltgrößte Supermacht bietet keinen besonders schönen Anblick, wenn sie Woche für Woche tausend Zivilisten tötet oder schwer verwundet.“ Der Krieg ist natürlich auch ein ästhetisches Problem.

Mit dem Frühling ist Vietnam wieder ins Land gekommen. Die Veteranenverbände sind empört über McNamaras Sätze, als hätte man die Wahrheit nicht schon immer wissen können. Er habe, während er an seinem Buch schrieb, jede Nacht Blut geschwitzt, sagt McNamara. Und wenn der heute 78jährige Kriegsverbrecher mit seinem Buch im Fernsehen auftritt, vergießt er gern ein paar Tränen. Vor der schwarzen Mauer, vor den 58.156 Namen, weint keiner. Nebenan auf den Stufen hinauf zum Lincoln Memorial erklärt ein Japaner seinen Freunden, daß sie sich hier an historischer Stätte befänden: Da unten am Reflecting Pool sei der Vietnam-Soldat Forrest Gump auf eine Friedensdemo geraten und habe seine Freundin wiedergefunden.

Ich weiß nicht, ob Du es verstehen würdest, Dad. Willi Winkler

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