„Mehr, als ich ahnen konnte“

Über 30 Jahre lang sicherte Gisela Frei in Moritzburg die letzten Spuren von Käthe Kollwitz / Am 50. Todestag der Künstlerin ging ein Wunsch in Erfüllung: Im „Rüdenhof“ wurde am Sonntag eine Gedenkstätte eröffnet  ■ Aus Moritzburg Detlef Krell

Das barocke Schloß mit seinen kurzen, trutzigen Türmen zittert leise. Wellen kräuseln sein Spiegelbild. Wie ein Klecks, mitten im Teich, hält sich eine Insel. Eine Baumgruppe verbirgt den Pavillon auf dem Wasser, als ob er allein für dieses Schwanenpaar errichtet worden wäre. Drüben, auf der Schloßpromenade, ergehen sich eifrige Touristen in wettinischer Historie.

Die Frau sitzt an ihrem Lieblingsplatz vor dem geöffneten Fenster und dem Selbstbildnis der Künstlerin. Sie ist nicht mehr jung, und die Beine versagen den Dienst. Aber ihre Augen leuchten, wenn sie von Käthe Kollwitz spricht, die in diesen Räumen Zuflucht gefunden hatte, einsam, fast vergessen, bis zum Tod. „Durch dieses Fenster hat auch Käthe Kollwitz gern geschaut, auf diese kleine Insel, das Wasser, die Wolken, die sie im Tagebuch beschrieben hat.“ Gisela Frei war gerade zwanzig, als die berühmte Künstlerin am 22. April 1945 starb, hier, im Rüdenhof, einem barocken Gutshaus am Schloßteich von Moritzburg. Eine Nachbarin fand die Siebenundsiebzigjährige im Bett. Im Juli darauf wollte die Deutsche Volkszeitung noch zum Geburtstag gratulieren: „Wir drücken der Künstlerin die Hand.“

Gisela Frei lebt heute allein im elterlichen Haus am Moritzburger Waldrand. Als sie geboren wurde, arbeitete die Kollwitz in Berlin an der Holzschnittfolge „Proletariat“; da war die Künstlerin schon 58 und Professorin an der Preußischen Akademie der Künste. „Mit sechs Jahren wollte ich Reichstagsabgeordnete werden und Frauen helfen, die wegen unehelicher Kinder so schlimm diskriminiert wurden. Mich hat soziales Unrecht immer aufgeregt.“ Im Biologieunterricht wurde die Schülerin in „Rassenunterschieden“ instruiert. Sie erinnert sich der Lehrerin: „Ich rief dazwischen: Das gibt uns kein Recht, Menschen umzubringen.“ Ihre Lehrerin habe darauf geantwortet: „Gisela, das behalte lieber für dich!“

Daheim wurde täglich Radio Beromünster gehört. „Wir wußten alles: Euthanasie, entartete Kunst, Konzentrationslager.“ Vater Frei war, wie es damals hieß, „Irrenseelsorger“ in einer staatlichen Anstalt für geistig Behinderte. Über der Familie wohnte ein Arzt. „Es war bekannt, daß er Euthanasie-Bescheinigungen ausstellte.“ Seelsorger Frei wollte die ihm anvertrauten PatientInnen retten und ersuchte Hitler um einen Gesprächstermin. „Empfangen hat ihn nicht Hitler, sondern ein Staatssekretär Lammert. Als mein Vater zurückkehrte von dieser Audienz, war er gesundheitlich gebrochen. Bald darauf erkrankte er an Lungenentzündung, und am 24. April 1940 ist er gestorben.“

Ihr Notabitur in der Tasche und ein Attest, das sie von Arbeits- und Kriegsdienst befreite, erlebte Gisela Frei das Kriegsende als Büroangestellte in einem Lazarett. Den Namen Käthe Kollwitz kannte sie damals bereits, durch die Vernichtungsaktion gegen „entartete Kunst“. Die Bilder der Kollwitz entdeckte sie zunächst in Büchern und Mappen. Sie ahnte nicht, daß diese verfemte, schwerkranke Frau in ihrer Nachbarschaft wohnte, in Moritzburg, dem verträumten Nest nördlich von Dresden. Käthe Kollwitz war vom kunstsinnigen Prinzen Ernst Heinrich von Sachsen im Juli 1944 aus dem von Bombardements bedrohten Nordhausen nach Moritzburg geholt und in den Rüdenhof einquartiert worden. Dort lebte sie zurückgezogen, halb erblindet, verzweifelt wartend auf den Tod. Schon im Dezember 1942 hatte sie es dem Tagebuch anvertraut: „Tot sein, o ja, das ist mir oft ein guter Gedanke.“ 1940 war ihr Ehemann Karl gestorben, im September 1942 Enkel Peter in Rußland gefallen. Am 23. November 1943 ist die Berliner Wohnung bei einem Bombardement in Flammen aufgegangen, mit Bildern und Druckstöcken, drei Monate nachdem die Kollwitz von der befreundeten Bildhauerin Margarete Böning in die Nordhausener Zuflucht geholt worden war.

Nach dem Krieg studierte Gisela Frei in Leipzig Kunstgeschichte und Theologie. Im Dresdner Kupferstichkabinett sah sie erstmals Originalblätter von Käthe Kollwitz, die Handzeichnungen. „Es war eine heilige, feierliche Stimmung, diese Zeichnungen in Händen zu halten und zu betrachten.“ Das Barockmuseum im Schloß Moritzburg richtete 1950 eine kleine Gedenkausstellung für Käthe Kollwitz ein. Gisela Frei arbeitete im Schloßmuseum als wissenschaftliche Assistentin. Als der Kunsthistorikerin die Leitung des international bekannten Museums übertragen werden sollte, monierten Kulturbürokraten das CDU-Parteibuch. „Also habe ich mich ganz ins Private zurückgezogen und in einer christlichen Buchhandlung gearbeitet.“

Nachdem die Gedenkfeiern zum 100. Geburtstag der in der DDR oft als „Wegbereiterin des sozialistischen Realismus“ verunglimpften Käthe Kollwitz vorüber waren, pflegte Gisela Frei den Grabstein in Moritzburg weiter. „Seit damals, 1967, habe ich mich mehr mit Käthe Kollwitz beschäftigt, als ich je ahnen konnte.“ Der Rüdenhof war seit dem Ende des Krieges über die zentrale „Wohnraumlenkung“ vermietet worden, obwohl es einen Beschluß der Landesverwaltung Sachsen gab, dort eine Gedenkstätte einzurichten. Es blieb bei einer unscheinbaren Erinnerungstafel. „In der DDR wurde Käthe Kollwitz sehr tendenziös dargestellt. Man zeigte immer wieder ihre kämpferischen Werke, ihr Verständnis des Proletariats. Die vielen privaten, intimen Zeichnungen wurden nicht gezeigt.“ Im Archiv der Forscherin liegt die Grabpredigt des Moritzburger Pfarrers Seibt. Er ahnte wohl, wie die Tote nun würde vereinnahmt werden: „Ihr herbes Wesen, das jeder Sentimentalität fern war, vermied gewiß alle Lippenbekenntnisse.“

„Mir ist diese Frau so bedeutsam geworden auch durch ihr Leben.“ Immer wieder habe sich Käthe Kollwitz für Notleidende engagiert. Die Künstlerin habe „bitter gelitten unter dem sinnlosen Abschlachten junger Menschen.“ Pazifistin sei auch sie, die Verehrerin der Kollwitz, geworden, das sei in der Familie schon lange Tradition: „Mit uns konnte niemand ein Heer aufbauen.“

Gisela Frei begann, in Moritzburg nach den spärlichen Spuren der Künstlerin zu suchen. Sie fand Frau Opitz, die im Rüdenhof Post zustellte und sich bis heute an die „nette, alte Dame“ erinnert, der sie beim Unterschreiben von Formularen die Hand führen mußte; sie stellte das letzte Möbelstück aus der Rüdenhof-Wohnung sicher, das noch nicht in alle Winde verhökert war, das Sterbebett; und sie durchforstete Archive und Bibliotheken.

Die gebrechliche Frau, die sich ohne fremde Hilfe nur auf Krücken vortasten kann, warb leidenschaftlich für eine Gedenkstätte im zusehends verfallenden Rüdenhof. Sie begegnete nach beharrlichem Suchen Margarete Böning, die ihr schilderte, wie Käthe Kollwitz zusammen mit drei Frauen, in der Nazi-Terminologie „Halbjüdinnen“, zu ihr nach Nordhausen übergesiedelt war. Ein „Freundeskreis Käthe Kollwitz“, legitimiert unter dem Dach des Kulturbundes, bemühte sich ab 1985 um Räume im Rüdenhof. Am 5. August 1990 wurde die provisorische Gedenkstätte eröffnet.

Fortan saß Gisela Frei mindestens jedes Wochenende im Rüdenhof. Von ihrem Lieblingsplatz aus, am Fenster zum Schloßteich, führte sie die BesucherInnen durch das Leben von Käthe Kollwitz. 1989 hatte Jutta Bohnke-Kollwitz, die Enkelin, erstmals wieder dieses Haus in Moritzburg besucht, 1990 Enkelsohn Arne Kollwitz. Eine „Stiftung Käthe Kollwitz Gedenkstätte“ konstituierte sich Januar 1994. Im Beirat sitzen die Kreissparkasse Köln und die Gemeinde Moritzburg neben der Kollwitz-Enkelin und der Direktorin des Barockschlosses; Sachsens Kunstminister und die Deutsche Stiftung Denkmalschutz sowie ein Mitglied des Freundeskreises. „Ich habe die Mitgliedschaft in Vorstand und Beirat abgelehnt“, erklärt die rührige Kollwitz-Kennerin, „denn ich will nicht Untertan sein in irgendeiner Form.“

„Gut ist, daß alle Institutionen anerkennen: Ohne die Vorarbeit des Freundeskreises wäre es nicht möglich gewesen, den Rüdenhof zu retten.“ Frühjahr 1994 begannen Bauarbeiten an dem Gutshof, wo im 18. Jahrhundert die kurfürstlichen Jagdhunde scharf gemacht worden waren. CDU-Gründungsmitglied Frei hatte auch an den Kanzler geschrieben, vom Zustand des letzten authentischen Wohnhauses der Bildhauerin und Grafikerin berichtet, vom Freundeskreis und seinem Vorhaben. „Ich hatte wirklich gehofft, Kohl öffnet sein Portemonnaie zu einer Spende.

Statt dessen kam ein Schreiben seines Büros: Der Bundeskanzler kenne Käthe Kollwitz, und wir alle sollten doch dankbar sein für die Wiedervereinigung.“ Erst als sich das Käthe-Kollwitz-Museum der Kreissparkasse Köln für das Projekt in Moritzburg begeisterte und einen Teil seiner Einnahmen zur Verfügung stellte, „kam die Finanzierung in Gang“. Am Sonntag wurde die Gedenkstätte eröffnet, fünfzig Jahre nach dem Tod einer engagiert mitfühlenden Frau, von der 1927 Gerhart Hauptmann geschrieben hat: „Ihre schweigenden Linien dringen ins Mark wie ein Schmerzensschrei.“

Ein eigenes, originalgrafisches Blatt von Käthe Kollwitz besitzt Gisela Frei nicht. Aber sie hat jetzt eines erworben, für den Freundeskreis, der es dem Museum überreicht. „Alles Material, das ich zusammengetragen habe, erhält die Gedenkstätte, den Briefwechsel, die Gesprächsnotizen, Fotos. Ich will darauf nicht sitzenbleiben wie eine Glucke, und ich denke, das entspricht dem Andenken an Käthe Kollwitz.“ Die Kollwitz-Verehrerin wird oft im Rüdenhof sitzen, mit ihren Gästen auch aus dem Fenster schauen, auf die Insel mit dem Pavillon. Die Forscherin aber hat sich neue Aufgaben gestellt: „Ich will jetzt aufschreiben, wie in Moritzburg mit der Erinnerung an diese Frau umgegangen wurde, von 1945 bis heute.“

Käthe-Kollwitz-Gedenkstätte, Rüdenhof, 01468 Moritzburg, Meißner Str. 7, Tel.: (035207) 356, April-Oktober, Sa/So: 10 bis 17 Uhr, Di-Fr: 11 bis 17 Uhr