Die türkischen Senioren fühlen sich allein gelassen

■ Lebensabend in der zweiten Heimat: Ein Besuch im Seniorenverein EM-DER

Die Allerstraße in Neukölln ist eine ruhige Seitenstraße. EM- DER e.V. – Hilfs- und Solidaritätsverein für Rentner, Behinderte und Senioren“ steht am Haus Nummer 30 auf einem Schild in türkischen und deutschen Lettern geschrieben.

Hier treffen sich die türkischen Senioren, um bei Tee und türkischem Gebäck ihre Freizeit zu verbringen. „Ich komme gerne hierher. Denn man trifft hier viele Menschen und weiß am Ende nicht mehr, wie schnell die Zeit vergangen ist“, erklärt einer der Senioren. „Schlimm wird es aber“, fährt er fort, „wenn man Rentner geworden ist und über reichlich Zeit verfügt, aber keinem Hobby nachgeht.“

Der Seniorenverein EM-DER bietet denen, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, Gelegenheit zu Abwechslung und Kreativität. So werden verschiedene Freizeitkurse bis hin zu Altersgymnastik angeboten. Außerdem unternimmt man Ausflüge und Tagesreisen, soweit der begrenzte Etat ausreicht.

Am hintersten Ende des Raumes steht ein Fernseher. Er ist auf den regionalen türkischsprachigen Kabelsender TDI geschaltet. Unbeeindruckt von dem Kitschfilm, der über den Bildschirm flimmert, haben sich die Senioren im Vereinslokal in ihre eigenen Welten vertieft. Während sich die Frauen über ihre Krankheiten beklagen und lebhaft über ihre Alltagserlebnisse berichten, erzählt am Tisch der Männer ein Rentner von dem idyllischen Ort Catalca nahe Istanbul, wo er ein Großteil seines hier in Deutschland verdienten Geldes für ein Einfamilienhaus investiert hat.

Ein Herr mit einem leicht gekrümmten Rücken und einer auf der Nase verrutschten Brille geht derweil von Tisch zu Tisch, um den Besuchern des Vereins bei ihren rechtlich-bürokratischen Problemen mit Rat und Tat zu helfen. Es ist der Vereinsvorsitzende Erdogan Özdincer, der bis zu seiner Pensionierung bei der Beratungsstelle des Deutschen Gewerkschaftsbunds für ausländische Arbeitnehmer arbeitete.

Im vergangenen Jahr zog EM- DER von Kreuzberg nach Neukölln. Als der Verein im Februar 1992 von einigen älteren Türken in Berlin gegründet wurde, war es der erste nichtdeutsche Seniorenverein seiner Art in Deutschland. Auch heute gibt es nur noch eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt in Spandau und den Stadtteilladen Halk Kösesi („Volksecke“) in Schöneberg. Dies ist aber nach den Worten des Vereinsvorsitzenden Özdincer nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Bedürfnisse der nichtdeutschen Senioren werden von den zuständigen Institutionen bewußt ignoriert, klagt er. Deshalb fordert er die nichtdeutschen Senioren zu mehr Selbsthilfe und Eigeninitiative auf. Nur mit Druck könnten die zuständigen Stellen dazu veranlaßt werden, ihre passive Haltung zu ändern, ist Özdincer überzeugt.

Unterstützung eilt, denn nach Angaben von EM-DER wird die Anzahl der Nichtdeutschen, die über 60 Jahre alt sind, von derzeit 300.000 bis zum Jahre 2010 auf 2,8 Millionen ansteigen. Deshalb fordert der Verein, den Senioren einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu garantieren, Betreuungs- und Pflegepersonal mit entsprechender sprachlicher und kultureller Kompetenz bereitzustellen sowie Begegnungsstätten und entsprechende Altersheime zu schaffen.

„Mit den Jahren ist auch Deutschland zu unserer Heimat geworden“, antwortete einer von den Senioren auf die Frage, ob er denn nicht in seine ursprüngliche Heimat zurückkehren wolle. „Jetzt haben wir zwei davon. Eine Zukunft ohne Deutschland kann ich mir nicht mehr vorstellen. Denn meine Kinder sind hier geboren, sind hier groß geworden, und sie wollen auch hier weiter leben. Ich kann mich unmöglich von meinen Kindern trennen.“

Sein Freund stimmt mit einem Kopfnicken zu und ergänzt: „Wo soll ich denn mit meinen 61 Jahren noch hin? Schon seit 21 Jahren lebe ich hier. In dieser Zeit habe ich Tag und Nacht arbeiten müssen, und meine Gesundheit hat sehr darunter gelitten. Deshalb bin ich auf das sonnige und gesunde Klima in der Türkei genauso angewiesen wie auf die bessere Gesundheitsversorgung in Deutschland. Eine endgültige Rückkehr in die Türkei kommt für mich daher überhaupt nicht in Frage. Statt dessen unterstütze ich die Forderung nach der doppelten Staatsbürgerschaft, denn wir gehören sowohl hierher als auch dorthin.“ Halil Can