"Ich stehe mit der Welt in Konkurrenz"

■ Junge Autorinnen müssen sich von der Emanzipation emanzipieren: Ein Gespräch mit Erfolgsautorin Marlene Streeruwitz

Seit vor drei Jahren die ersten Stücke von ihr in Köln uraufgeführt wurden, gehört sie zu den vielgespielten Autorinnen. Im Moment ist Hoch-Zeit für Marlene Streeruwitz, die 1950 in Baden bei Wien geborene Dramatikerin mit der Bilderbuchkarriere: In Graz kam ihr Debütstück „Brahmsplatz“ (1986) zur Uraufführung; eine alte Frau und ihr Gefährte Gabor warten auf einen Kohlenmann, der seine Kohlen in der guten Stube ablädt. Anfang Juni wird am Kölner Schauspielhaus, mit dem Marlene Streeruwitz eng zusammenarbeitet, „Dentro“ (1994) uraufgeführt. „Was bei Lears wirklich geschah“ heißt es im Untertitel, Papa Lear trägt einen „versifften Bademantel“ und ist mit „syphilitischen Pusteln“ bedeckt. Anfang nächster Saison kommt wiederum in Köln „Bagnacavallo“ (1993) zur Uraufführung. Die Welt ist ein Disneypark, in dem wie eh und je Sauriergetöse und Krieg an der Tagesordnung sind.

taz: Frau Streeruwitz, haben Sie auch den Eindruck, daß im Gegensatz zu den 80er Jahren heute wesentlich mehr Autorinnen auf Schauspielbühnen vertreten sind?

Marlene Streeruwitz: O ja. Es fällt zum Beispiel auf, daß plötzlich auch junge Autorinnen sehr schnell Gehör finden. Geschrieben haben ja schon immer viele Frauen, inzwischen ist aber die Bereitschaft wesentlich größer, ihre Stücke aufzuführen. Ob dahinter spekulative Gründe stehen, weiß ich nicht.

War es eine Frage der Zeit?

Ich glaube, daß die Qualität der Stücke gestiegen ist und daß es heute mehr Stücke von Autorinnen im Rahmen des gängigen Theatercodes gibt. Daß das so ist, bedeutet für Autorinnen eine Art Weltnahme. Sie bewegen sich nicht mehr nur in Grenzgebieten zum Beispiel hin zur Performance, womit man vor zehn Jahren noch eine spezifisch weibliche Ausdrucksform im Blick hatte. Es geht nicht mehr nur um die Nabelschau weiblicher Existenz, die sicher notwendig war und es in bestimmter Form für jede schreibende Frau auch heute noch ist. Im Gegensatz zu den 70er Jahren geht es nicht mehr um die Darstellung reiner Weiblichkeit und des Andersseins.

Ist die Normalisierung nicht auch eine Verlust, zum Beispiel des Experimentellen?

Es gibt das Experimentelle ja weiterhin. Frauen haben das Theater eher dazugewonnen. Im übrigen ist das mit dem Verlust auch wieder eine eher männlich geprägte Vorstellung. Man kann nicht von einer Gruppe – und die Frauen sind immerhin die Hälfte der Gesellschaft – einen steten Befreiungsheroismus etwa im Experimentellen verlangen, und gleichzeitig sollen sie aber ihren Alltag bewältigen.

Sie leben in Wien in nächster Nähe zu Elfriede Jelinek. Gibt es Affinitäten?

Ich schätze, was sie schreibt.

Junge Theaterautorinnen wie Dea Loher oder Simone Schneider grenzen sich von Jelinek ab und wollen mit dem „weiblichen Blick“ der 80er Jahre nichts zu tun haben. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ich nehme an, daß es um ein Mutter-Tochter-Problem geht. Wenn junge Autorinnen sich heute stark abgrenzen, ist das berechtigt und hat mit einer jugendlich-antiautoritären Haltung zu tun. Auf der anderen Seite haben sie natürlich auch leicht reden und profitieren ganz selbstverständlich von der Pionierarbeit, die in den 70er Jahren geleistet wurde. Dea Loher würde ohne Elfriede Jelinek nie aufgeführt werden. Wenn junge Autorinnen heute meinen, ohne den Feminismus auskommen zu können, bedeutet das lediglich, daß sie ihn nicht mehr brauchen, weil es ihn gibt und sie darauf aufbauen können. Frauen müssen sich von der Emanzipation emanzipieren oder sich, existentialistisch ausgedrückt, in neue Freiheiten werfen. Autorinnen haben außerdem noch lange Wege vor sich, bis sie den Status von Autoren haben, mit denen das Theater selbstverständlicher umgeht.

Im Theater läßt sich teilweise gut verdienen, Autorinnen und Autoren stehen allerdings ganz unten in der Hierarchie. Wie würden Sie die Bedingungen ihres Berufsstandes charakterisieren?

Beschissen. Ja, man kann es nicht anders sagen. Es ist ein Hohn, daß wir die letzten sind, die an der Abendkasse beteiligt werden. Wir bekommen kaum etwas, aber genau diese minimalen Tantiemen sind ironischerweise verantwortlich dafür, daß lebende Autoren kaum gespielt werden. Der Grund: Ein Klassiker kostet gar nichts, man braucht keine Tantiemen zu zahlen. Ich denke also, daß man Klassiker besteuern und daraus einen Fonds für lebende Autoren gründen sollte.

Ihre Stücke werden derzeit viel gespielt. Können Sie davon leben?

Allein schon, eine Familie ernähren könnte ich nicht. Schreibe ich als freiberufliche Texterin eine Broschüre über Agrarökologie, arbeite ich zwei Wochen und verdiene bedeutend mehr als an einem Stück, an dem ich ein Jahr schreibe.

Noch einmal zur Frage von Affinitäten: Lesen Sie Rainald Götz oder Werner Schwab?

Ich muß gestehen, daß ich fast nur englische und italienische Literatur lese. Ich stehe mit der Welt in Konkurrenz, nicht mit der Theaterliteratur. Eine Zeit war ich von Edward Bond schwer beeindruckt, habe bei seinen neuen Stücken allerdings immer mehr den Eindruck, daß er sich selbst heroisiert. Ein Mann wird, glaube ich, von Natur aus so hergerichtet, daß er sich gegen Ende seines Lebens als Gottvater sieht.

Zu Ihren neuen Stücken. Als ich „Dentro“ las, mußte ich an Bonds „Lear“ denken.

Ja, vielleicht gibt es Parallelen, und zwar in der Frage der Vehemenz und Weltwut, die ich in „Dentro“ gelegt habe. Ich werde übrigens nächste Saison Bonds „Early Morning“ in Köln inszenieren.

Warum gerade die Schlangengrube „Familie Lear“ mit dem Zentrum Cordelia?

Ich wollte das Leben einer Frau in einer fundamentalistischen Männergesellschaft und patriarchalischen Kleinfamilie zeigen. Solch eine Familie ist eine Katastrophe für Kinder. Sie müssen bei den Menschen, die sie unter Umständen mißbrauchen, Schutz suchen.

Auch in „Bagnacavallo“ herrscht eine Atmosphäre, in der alles gleichzeitig etwas Barbarisches und etwas Spielerisches hat.

Krieg ist doch Spielgegenstand. Genau darum geht es. Seit dem Golfkrieg wissen wir, daß es sich um ein Videospiel handelt. Daß trotzdem Leichenberge aufgetürmt werden, das ist das Barbarische daran. Und daran sollte man erinnern, denke ich.

Könnte man „Bagnacavallo“ zusammen mit „Dentro“ als Shakespeare-Doppel bezeichnen? Ginge es Ihnen zuweit, „Bagnacavallo“ als Romeo-und-Julia-Travestie zu sehen?

Shakespeare an sich interessiert mich überhaupt nicht. Was an Shakespeare zu interessieren hat, ist das Interesse des heutigen Theaters an ihm. Reaktionär männliches Getöne auf allen politischen Ebenen in kostbarem Dramengewand. Deshalb nehme ich einzelne Figuren und stelle sie in einen anderen Zusammenhang, um zu zeigen, wer zum Beispiel Herr Romeo wirklich ist: einer, der im Schlafzimmer säuselt, ansonsten aber ein Kriegstreiber ist wie jeder andere Adlige seiner Zeit. In „Bagnacavallo“ hat er dann halt noch ein Handy und neuere Waffen. Im übrigen sind die Frauenfiguren aus „Pelleas et Mellisande“.

Wie würden Sie Ihr eigenes Spiel mit Realismus und Surrealismus charakterisieren?

Ich würde sagen, ich verschiebe Realitäten so lange, bis sie einander aufgehoben haben und eine neue Realität entstanden ist. Planer Realismus kann doch heute – wie zu jeder anderen Zeit – nur die Lüge von Altarbildern aufrechterhalten.

Sie erleben Deutschland gleichzeitig aus der Nähe und der Wiener Distanz. Wie sieht es für sie nach dem Mauerfall aus?

Man erlebt Freude, Pathos, das erste, zweite und dritte Selbstmitleid. Alle wirken sehr verunsichert, weil die Tenniswand fehlt, gegen die man früher von beiden Seiten geschossen hat. Der Kalte Krieg war eine Fiktion. Das „Traurigste“ ist, daß man heute keinen James Bond mehr drehen kann. Man muß sich die Welt jetzt halt ordentlich neu ausdenken, was schwer anstrengt und einige überfordern dürfte. Interview: Jürgen Berger