Die Sprache, ein Garten aus Ängsten

Alltäglich erfahrbare Abstumpfung und Entmündigung: Herta Müllers biographischer Roman „Herztier“  ■ Von Tomas Fitzel

Mit „Herztier“, ihrem jüngsten Roman, hat Herta Müller zurückgefunden an den Ort ihrer Erinnerung, den Ort ihres schriftstellerischen Beginns und durch ihn hindurch an den Ort ihrer Gegenwart. Sieben Jahre brauchte sie, um diesen einen Satz schreiben zu können: „Ich war in Deutschland“, was nichts anderes heißen will als „ich bin hier“, mit der einklagenden Betonung auf dem Ich und dem Hier. Herta Müller gibt sich preis, so, wie ihre Protagonistin, die man beim Verhör gezwungen hatte, sich auszuziehen, noch eine Weile nackt sein wollte. Diese Nacktheit verlieh ihr eine unerwartete Sicherheit, ihre namenlose Angst wurde eine benennbare. Im gleichen Maß jedoch, in dem sich Herta Müller dadurch schutzlos ausliefert, ist der Leser ihr ebenfalls ausgeliefert. Sie rückt ihm gewissermaßen unerlaubt und unangenehm auf den Pelz.

Falsch wäre nun aber, „Herztier“ lediglich als autobiographische Erinnerungs- und Leidensbewältigung einer rumäniendeutschen Autorin zu lesen. Sicherlich werden Vertraute der Szene um die dissidente „Aktionsgruppe Banat“ Personen wie den Lyriker Rolf Bossert, der 1986 in Frankfurt Selbstmord begangen hat, wiedererkennen. Herta Müller geht darüber hinaus. Es gelingt ihr, Bilder ihrer Angst in das Zentrum unserer Sprache – unserer Kinder- und Märchensprache – zu transportieren. Die Reduzierung auf einfache Grunderfahrungen, Grundängste, die dadurch dem Leser begreifbar gemacht und nahegebracht werden, verleiht dem Roman eine verstörende, fast soghafte Kraft. Doch niemals geht dabei der konkrete politische Rahmen verloren, niemals verliert Herta Müller sich in einer allgemein diffusen Angstbefindlichkeit.

Ihre Methode ist die in der Fernsicht auf das Nahe gerichtete und umgekehrt, die Verfremdung der Wirklichkeit in eine überwirkliche oder, um ein Wort von Herta Müller zu gebrauchen, „überendliche“. Kaum ein eindringlicheres Bild ließe sich hier für die alltäglich erfahrbare Abstumpfung und Entmündigung finden als das Nichtvorhandensein von Messer und Gabel in der Kantine. Eine Banalität vielleicht; doch „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht“, wem hätte sich dies nicht unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt? „Diese Blindheit kommt daher, daß wir nie mit dem Messer schneiden und mit der Gabel stechen dürfen. Daß wir essen wie Tiere.“ Ähnlich ihr Umgang mit den Wörtern, die sie zum Klingen bringt, wenn sie ihnen „nachhört“. Bei diesem sinnlichen Umgang mit der Sprache fällt dann aber doch auf, daß das Rumänische, die Sprache, in der nicht nur die Macht, sondern auch die Protagonistinnen Lola und Tereza sprechen, gänzlich abwesend ist, während das Ungarische der Zimmervermieterin zumindest einfließt. Vielleicht weil sie dieser Sprache der Demütigung, der Bedrohung und auch – aufgrund der Geschichte ihrer Freundschaft zu Tereza – des Verrats nicht den geringsten Raum mehr zugestehen mag. Weil darin „du und ich vernichtet war“.

Herta Müller macht sich klein, schlüpft gleich ihrer Großmutter zurück in ihre Kindertage. Beide halten sich an das Singen – das Glück des Vergessens bleibt der Großmutter vorbehalten. Sie darf mit einem Apfelbissen im Mund den Schneewittchentod sterben. Die Anleihen an die Grimmsche Märchenwelt verweisen auf etwas anderes, das nur fragmentarisch in die Gegenwart ragt. Sie wählt immer wieder diese Kinderaspekte, weil neben der Zurichtung durch die Diktatur parallel auch die der Eltern besteht. Die eine bedingt und ermöglicht die andere.

Der Vater war als SS-Soldat „singend in die Welt marschiert und hatte Friedhöfe gemacht“, kein anderes Geschäft betreibt der Geheimpolizist Pjele. Die Ausgangserfahrungen werden so als wiederholte erlebt. Und die Mütter banden ihre Töchter mit Kleidergürteln an den Stuhl, um sie ruhigzustellen. „Die Krankheiten der Mütter spürten, daß Losbinden für uns ein schönes Wort war.“ Für Lola kam das Losbinden zu spät. Sie hing an einem Gürtel im Schrank. Natürlich, wenn schon eine Lola heißt, dann kann das nicht gutgehen mit ihr.

Aus der radikalen Innenperspektive eines Ichs, das von der Angst beherrscht ist, gleitet die Wahrnehmung anderer Subjekte ins Typisierte. Lola ist ein Archetypus, und auch die drei Freunde Georg, Kurt und Edgar besitzen nicht mehr Individualität als die „drei Brüder“ im Märchen. Aber eine Kritik an ihrer mangelhaften Figurengestaltung verkennt die bewußte Verwendung dieser Reduktion. Auch das Erzählerinnen-Ich bleibt davon nicht unbetroffen. „Ich weiß nicht mehr, welche ich von ihnen war.“ Und: „Du bist aus Holz.“ Es löst sich also einerseits erinnernd in einer Vielzahl anderer auf und nimmt zugleich den ihnen vorbestimmten Tod, zu dem die Macht sie verurteilt hat, schleichend als ein Versteinern in der starr machenden Furcht vorweg.

An der Beschreibung von Lolas Tod – Mord oder Selbstmord, das bleibt im Unbestimmten – zeigt sich Müllers Kalkül und Handwerk. Mit schon fast sadistischer Berechnung und Kühle baut sie diese Szene auf, führt den Leser für einen Augenblick auf den sentimentalen Weg, um dann mit Vehemenz über ihn herzufallen.

Müllers Prosa kennt keine Übergänge, alles wird in das Licht eines aufflammenden Blitzes getaucht. Untergründig bereitete sich die Szene jedoch schon mit dem Gürtelmotiv vor. Dieses bestimmt den gesamten Text und stellt neben dem Wind eine der Zentralmetaphern dar.

Als durchgängig dominierend zeigt sich in Müllers Welt die Angst. „Sie waren in der Angst zu Hause.“ Die Angst führt sie zusammen („weil wir Angst hatten, waren Edgar, Kurt, Georg und ich täglich zusammen“), verschweißt sie jedoch keineswegs zu einer Gemeinschaft. „Die Angst blieb so einzeln in jedem Kopf, wie wir sie mitbrachten.“ Mehr noch: „Wir hatten in der Angst einer in den anderen so tief hineingesehen, wie es nicht erlaubt ist.“ Die Angst, „sie schert aus“, und das Mißtrauen zieht ein, das Mißtrauen, „das alles, was sich in meine Nähe zog, zum Wegrutschen brachte“.

Dieses ungesicherte Erzählerinnen-Ich, das von der Angst verschluckt, aber auch wieder ausgespien wurde, das sich gerettet hat und sieben Tote hinter sich ließ – „die Mühe, uns zu retten, war Geduld“ –, es bedarf nicht mehr des Schutzes der bildermächtigen Sprache.

Und so reduziert sich nach der eingangs schon erwähnten Wendung, die mit dem Satz: „Ich war in Deutschland“ markiert ist, die Metaphernvielfalt. Diese drohte Müllers ursprünglich spröden Stil in einem überbordenden Manierismus zu ersticken. Nun zeigt sich, daß ihre poetische Sprache Müller ein Fluchtland war, gleich dem wunderbaren Sommergarten, in dem sie sich mit ihren drei Freunden traf, diskutierte, schrieb und die in das Land geschmuggelten Bücher, die sie in einem Brunnen versteckt hatten, lesen konnte. Es ist ein kleines Utopia und darin vergleichbar mit der Literatengesellschaft in den Wäldern von Bradburys „Fahrenheit 451“.

Wie jegliches Papier, brennen auch ihre Bücher bei 451 Grad Fahrenheit, ihre Sprache aber brennt schon bei ganz anderen Temperaturen. Es bleibt zu hoffen, daß der Druck der Öffentlichkeit sie nicht in die Rolle der Vertreterin einer rumäniendeutschen Literatur drängt. Denn man darf mehr von ihr erhoffen.

Herta Müller: „Herztier“. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1994, 252 Seiten, 42 Mark