Kabul wirkt wie ein böser Traum

Nach dem dreijährigen Bürgerkrieg um die afghanische Hauptstadt ist jetzt Ruhe eingekehrt. Aber eine friedliche Zukunft erwartet niemand.  ■ Aus Kabul Ahmad Taheri

„Der Weg zu den Trümmern ist frei“, sagt Abdulkarim Niazi sarkastisch. Mit den Trümmern meint der Kaufmann seine Heimatstadt Kabul. Die Straße zwischen Dschalalabad und der afghanischen Hauptstadt war in den vergangenen Jahren des öfteren vom Rebellenführer Gulbuddin Hekmatjar gesperrt worden. Doch seit einigen Wochen ist der Krieger auf Friedenskurs. Die Männer Hekmatjars, die über den Felsen hocken und Wache halten, winken unserem Fahrer, einem Paschtunen aus Dschalalabad, freundlich zu.

Noch vor wenigen Monaten hätte man unseren Toyota ein dutzendmal angehalten, um den Fahrer um einige tausend Afghani zu erleichtern. Nur einmal versperren uns zwei junge Männer mit Kalaschnikows den Weg. „Liebe Brüder“, sagt einer der beiden, „habt ihr etwas Dschars für uns?“ Der Fahrer greift in den Hosenbund, holt einen dicken schwarzen Haschischklumpen hervor, bricht ein Stück davon ab und reicht es ihm. Für den Tabak sorgt der Gast aus Deutschland. „Gott möge es euch vergelten“, verabschiedet sich der fundamentalistische Kiffer.

„Fahren Sie nach Pulkheschti“, bitten wir den Fahrer, als wir nach achtstündiger Fahrt die afghanische Hauptstadt erreichen. „Pulkheschti gibt es nicht mehr“, antwortet er. Der Stadtteil, einst das pulsierende Herz Kabuls, ist vom Erdboden verschwunden. Von den zweistöckigen Häusern entlang dem Fluß, von den schattigen Basaren und dem „Haus des Prinzen“, wo sich noch vor zwei Jahren die Wechselstuben aneinanderreihten, ist nichts geblieben als ein Haufen Schutt und Asche. Als einziges Gebäude steht noch, wenn auch stark beschädigt, die Freitagsmoschee Pulkheschti. „Gott hat sein Haus gerettet“, meint der Fahrer. Auch andere Viertel, wie das Quartier 3 oder das Quartier 4, sind nur noch ein Trümmerfeld. Die afghanische Hauptstadt wirkt bisweilen wie ein böser Traum. Drei Jahre lang wurde Kabul von innen und außen beschossen. Doch die Metropole ist keine tote Stadt. Der Lebenswille der Bevölkerung ist ungebrochen.

In manchen Stadtteilen herrscht ein buntes Treiben, als hätte es hier nie einen Bürgerkrieg gegeben. In Parwan etwa, einem Stadtteil, der weitgehend von Zerstörung verschont geblieben ist, sitzen Hunderte von Händlern am Straßenrand und preisen ihre Waren an. Das Zentrum der Geschäftigkeit bildet der Geldmarkt. Ein Dutzend junger Männer laufen umher und fragen die Passanten nach Dollars. In der Hand halten sie ein dickes Bündel Afghanis, die Landeswährung. Vor zwei Jahren kostete ein Dollar tausend Afghani. Jetzt steht der Wechselkurs eins zu dreitausend. Seitdem Hekmatjar die Route zwischen Pakistan und Kabul freigegeben hat, findet man in Kabul fast alles. Doch die Preise sind unerschwinglich hoch. Der Durchschnittslohn der Afghaner ist 120.000 Afghari, etwa 66 Mark im Monat. Das einfache Volk ernährt sich von Brot und Tee.

Seitdem die Regierungstruppen die Taleban, bewaffnete afghanische Religionsschüler aus dem benachbarten Pakistan, aus der Umgebung von Kabul verjagt haben, erlebt die Stadt nach dreijährigem Gemetzel eine Zeit des Friedens und der Ruhe. Nach regnerischen Tagen scheint heute wieder die Sonne. Die Berge, die Kabul umgeben, sind weiß beschneit. Ein Meer von graubraunen Häusern aus Lehm oder getrockneten Ziegelsteinen erstreckt sich im Tal.

Zum ersten Mal seit Ausbruch des Bürgerkrieges feiert Kabul wieder Newroz, das Neujahrsfest am 21. März. Am Pir-e Boland, dem Grab eines Heiligen, das an einer Anhöhe liegt, sind Hunderte von Menschen versammelt. Der Besuch eines Heiligtums an Newroz ist ein alter Brauch. Davon versprechen sich die Menschen ein gesegnetes neues Jahr. Die Hälfte der Frauen trägt europäische Kleidung. Nur ein durchsichtiges Tuch bedeckt knapp die Haare. Die islamische Macht hat, aus Einsicht oder Schwäche, die Kabuler Frauen weitgehend unbehelligt gelassen. Die älteren Männer haben zum Fest den weißen Bart mit Henna gefärbt, die kleinen Jungen laufen mit kurzgeschorenem Kopf und angemalten Augen umher.

Für viele von ihnen beginnt morgen ein neues, unbekanntes Leben. Am kommenden Tag öffnen die Schulen nach dreijähriger Zwangspause ihre Tore. „Ich will am Nachmittag in die Schule kommen“, sagt der kleine Junge, dessen Kinn eben bis zur Schreibtischkante reicht. Am Nachmittag gebe es keinen Unterricht, erwidert der Schulleiter, ein Tadschike von etwa Mitte 30. „Ich will aber am Nachmittag kommen“, wiederholt der Kleine. Karim, so heißt der Junge, hat vor einem Jahr bei einem Raketenangriff seine Eltern verloren. Jetzt lebt er bei seinem Onkel und muß am Vormittag in dessen Bäckerladen arbeiten. Der Direktor schickt ihn mit dem Versprechen weg, er werde bald eine Nachmittagsklasse einrichten.

Jetzt ist ein weißbärtiger Mann mit seinen beiden Enkelkindern an der Reihe. Der ältere Junge, elf oder zwölf Jahre alt, ist barfuß. Die Enkelsöhne hätten keine Papiere, keine Zeugnisse, alles sei von den Bomben verbrannt worden, schwört der Greis. Der Direktor hat seinen Schreibtisch von zu Hause mitgebracht. Während der letzten drei Jahre war alles aus der Schule von den Mudschaheddin weggeschleppt worden. Selbst die Klassentüren nahmen sie als Brennholz mit. Jetzt wird der Unterricht im Hof abgehalten. Zum Glück scheint an diesem ersten Schultag die Sonne warm. Vor dem Eingang der Schule steht eine Marmortafel mit den Idealen der Französischen Revolution: „Liberté, Egalité, Fraternité“. Mitten in Kabul wirken diese Hoffnungen wie ein Hohn. Die Esteghlai- Schule wurde vor Jahrzehnten vor den Franzosen errichtet. Hier machte Ahmed Schah Massud, der Befehlshaber der Regierungstruppen, vor 26 Jahren sein Abitur.

Noch schlimmer steht es um die Kabuler Universität, die ebenfalls ihre Arbeit wiederaufgenommen hat. Die Universität mit ihren baumbestandenen Anlagen liegt im Quartier Sachi, einem der Schlachtfelder des muslimischen Bürgerkrieges. Die Wahdat, die Kampfgruppe der Hizara, der Schiiten mongolischer Herkunft aus Zentralafghanistan, herrschten in diesem Viertel, bevor sie Anfang März von Regierungstruppen geschlagen und verjagt wurden. Die schiitischen Mudschaheddin, die an der Seite Hekmatjars gegen die Regierung kämpften, hatten die Universität zu ihrem Hauptquartier gemacht. In den Hörsälen türmten sich Raketen und Granaten. „Zehntausende von Büchern, darunter kostbare Handschriften“, sagt der Universitätsdirektor Amir Schah Hassanyar, „verbrannten die Barbaren im Winter, um ihre blutigen Hände zu wärmen.“ Nun müsse man bei Null anfangen, fügt der in den USA ausgebildete Professor hinzu.

Nach dem Sieg des Islam über den Kommunismus waren die Mudschaheddin über die Hauptstadt hergefallen. Sie sahen in Kabul eine den Kommunisten entrissene Beute, von der sie in ihren einsamen Bergen jahrelang geträumt hatten. Der Name Kabul, seit 1880 offizielle Hauptstadt des Landes, ließ schon immer die afghanischen Herzen höher schlagen. „Die Feder grünt in meiner Hand, wenn ich die Schönheit deines Frühlings preise“, besangen afghanische Poeten ihr Kabul-Dschan, das „geliebte Kabul“.

1980 zählte die Stadt zwei Millionen Menschen. Die Mehrheit bildeten die Tadschiken, gefolgt von Hizara, Paschtunen und einem halben Dutzend anderen Ethnien. Das soziale Gefüge war nicht gerecht, doch es funktionierte. Die Tadschiken waren Beamte, Kaufleute, Handwerker und Akademiker, die Hizara bildeten die Parias der Hauptstadt. Die politische Macht lag in paschtunischer Hand. Durch den Heiligen Krieg gegen die russischen Besatzer, an dem sich alle Völker Afghanistans beteiligt hatten, gewannen die Minderheiten nicht nur ein neues Selbstbewußtsein, sondern – was noch viel wichtiger war – sie konnten sich bis an die Zähne bewaffnen. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes im Jahre 1992 forderten sie ihren Anteil an dem Sieg. Damit begann der Bürgerkrieg, der bis heute anhält.

In Kabul kursieren schreckliche Geschichten über die vergangenen Jahre. Die Schiiten hätten ihren Gefangenen Nägel in den Kopf geschlagen. In einem Hizara-Haus habe man 20 nackte, vergewaltigte paschtunische Frauen gefunden. Im Gegenzug berichten die Hizara von den Greueltaten der „Wahhabiten“, wie die paschtunischen Mudschaheddin des Theologen Sayyaf genannt werden. Die Wahhabiten hätten den schiitischen Frauen die Brüste abgeschnitten und kleine Kinder ins Feuer geworfen. 80 Prozent solcher Geschichten entstammten der afghanischen Phantasie, hört man dagegen beim Roten Kreuz in Kabul. Doch Mord und Plünderungen habe es auf allen Seiten gegeben.

„Drei Männer mit verhüllten Gesichtern kamen in der Nacht“, erzählt der Teppichhändler Abdul Ghader. „Als mein älterer Sohn Abdullah ihnen in den Weg trat, schossen sie ihn nieder und nahmen alles mit, was ich hatte. Abdullah habe ich am nächsten Tag im Hof meines Hauses begraben.“ In vielen Kabuler Häusern liegen inzwischen Tote unter der Erde. Der Weg zum Friedhof lag in den letzten zwei Jahren in der Schußlinie zwischen den Fronten.

Aus der dreijährigen Schlacht um Kabul ist der Präsident, Burhanuddin Rabbani, einstweilen als Sieger hervorgegangen. Hekmatjar, der Hauptfeind der Regierung, sitzt fern von der Hauptstadt in Sarubi, einer Ortschaft zwischen Kabul und Dschalalabad. Die Wahdat ist vernichtend geschlagen worden. Tausende von Hizara sind in Richtung ihres Stammlandes geflüchtet. Und die neuen Machtprätendenten, die Taleban, erlebten Mitte März in Dscharasiab vor den Toren Kabuls ihre erste militärische Niederlage. Die afghanische Hauptstadt braucht sich einstweilen vor Raketen nicht mehr zu fürchten. An einen Rücktritt, wie er im Friedensplan der UNO ursprünglich vorgesehen war, denkt Rabbani daher weniger als je zuvor. Er hat sich für längere Zeit in Golkhane, dem Rosenhaus, wie der Herrschersitz im Zentrum Kabuls heißt, eingerichtet.

Im Hof des viktorianischen Palasts aus dem 19. Jahrhundert exerziert die Leibgarde Rabbanis. Die bärtigen Männer, 500 an der Zahl, wirken in ihrer grünen Militärkluft unbeholfen. Den Stechschritt zu üben ist ihnen eine Qual. Die Leibwächter des Präsidenten sind alle „Badakhschi“, Mudschaheddin aus Badakhschan, dem Stammland Rabbanis im Nordosten Afghanistans. Im Ernstfall wollen sie ihren Landsmann „bis zum letzten Schuß“ verteidigen, sagt ein junger Rekrut. „Beim ersten Schuß“, meint indes der wachhabende Offizier, „werden diese Leute bis Badakhschan fliehen.“ Die Badakhschi gelten bei den Afghanen als Hasenfüße.

Der eigentliche Herr Kabuls ist nicht Präsident Rabbani, sondern Ahmed Schah Massud. Der einstige Held des Dschihad führt nicht nur die Regierungstruppen, sondern ist auch zuständig für die nationale Sicherheit. Seine Männer, die wie er fast alle aus Panschir kommen, bilden die Prätorianergarde der tadschikischen Herrschaft. Sie haben mit der Entwaffnung der räuberischen Mudschaheddin-Banden für eine relative Sicherheit der afghanischen Hauptstadt gesorgt. Seit einigen Monaten wagen die Menschen sich auch nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße. Eine friedliche Zukunft jedoch erwartet in Kabul niemand. Seit 16 Jahren sprechen die Waffen in der afghanischen Hauptstadt. „Das Wort Zukunft verschwindet allmählich aus unserer Sprache“, sagt der Rektor der Universität. „Für viele bedeutet Zukunft, zwei oder drei Wochen lang ohne Angst vor Raketen und Bomben ihr tägliches Brot verdienen zu können.“