■ Noch einmal: McNamaras Irrtumsbekenntnis zu Vietnam
: „Wie eine stehengebliebene Mahlzeit, nicht gegessen, nicht abgeräumt“

In ihren ebenso einzigartigen wie eindringlichen Lebenserinnerungen als KZ-Überlebende schreibt Ruth Klüger („weiter leben. Eine Jugend“) über die Jahre 1945-47 in Deutschland: „Wir waren alle beteiligt an der Verdrängung der Vergangenheit, die früheren Häftlinge freilich weniger als die Freigebliebenen und die früheren Täter am meisten. Uns allen war der Boden unter den Füßen zu heiß [...] Das fiel mir in Amerika nach dem Vietnamkrieg ein: Wir waren so erleichtert, daß dieser Alptraum ausgestanden war, wir wollten uns endlich mit anderem beschäftigen, genug hatten wir von dem häßlichen Krieg. Ein älterer amerikanischer Journalist, David Halberstam, schrieb neulich: ,Vietnam ist uns auf dem Tisch stehengeblieben wie eine Mahlzeit, die weder aufgegessen noch abgeräumt wurde.‘ Früher oder später kommt die Rechnung für jede Mahlzeit, ob man sie gegessen oder stehengelassen hat.“

Die Aufregung um das Geständnis-Bekenntnis des damaligen Verteidigungsministers McNamara, daß der von ihm in zentraler Verantwortung mitgetragene Vietnamkrieg ein Irrtum, ein Fehler gewesen sei (und daß er selbst das schon 1964 erkannt, aber dazu – zumindest nach außen – geschwiegen habe: der Krieg dauerte dann noch bis 1975 und die meisten der über 50.000 amerikanischen und der auf um die halbe Million geschätzten vietnamesischen Opfer starben erst danach, von der bleibenden Verwüstung des Landes selbst zu schweigen), diese in Buchlänge dargebotene Erklärung dürfen wir gerade in diesen Tagen ständigen historischen Erinnerns in dem von Klüger angesprochenen Kontext lesen.

Mir scheint die aufgeregte Empörung über den Protagonisten McNamara einigermaßen unverständlich oder wenn verständlich, dann vor allem als Ausdruck jener auch nach 1945 für mehr als zwei Jahrzehnte in Deutschland praktizierten Verdrängung schlimmster Wahrheiten. Nicht McNamara heißt das Problem – wir selbst sind es; wir, die öffentlichen Meinungsmacher, die Intellektuellen, die Journalisten, die Akademiker, die Professoren der Politikwissenschaft oder der internationalen Politik, wir, die wir uns engagieren in der Politik und Politik mit Moral verbinden, an ihren Maßstäben messen wollen.

Wir, und damit meine ich natürlich gleichermaßen die amerikanische liberale Öffentlichkeit, haben Vietnam verdrängt, so, wie der Holocaust jahrzehntelang verdrängt wurde. Denn als der Krieg 1975 schließlich mit dem Abzug der letzten amerikanischen Truppen und ihres Botschaftspersonals – und dann dem Fall Saigons – zu Ende war, da wollten, wie Klüger für die ersten Nachkriegsjahre schreibt, wir uns endlich mit anderem beschäftigen, weil wir genug hatten von diesem häßlichen Krieg. Den anderen, denen, die in blinder antikommunistischer Treue zur amerikanischen Regierungspolitik standen, seien es die Deutschen (wir erinnern uns: die politische Klasse von SPD bis rechts stand zusammen mit der Presse geschlossen hinter der US- Politik), seien es die Amerikaner, wollten ohnehin nun alles andere als etwa Ursachenforschung betreiben – und indem sie bald auf die tragischen Boat people verweisen konnten, schien die amerikanische Politik geradezu noch rückblickend als gerechtfertigt.

Daß und warum (nicht „wie“, das hatten die übrigens vom selben McNamara in Auftrag gegebenen „Pentagon Papers“ in schockierender Deutlichkeit geklärt) diese große demokratische Gesellschaft, geführt von „the best and the brightest“ (so der von Klüger zitierte Halberstam) und unterstützt von der großen Mehrheit der sozial- und politikwissenschaftlichen Intellektuellen (die akademischen Gegner der Vietnampolitik kamen überwiegend aus anderen Disziplinen!), von der Presseöffentlichkeit ganz zu schweigen, daß diese sich auf ein so kriminelles Abenteuer blindlings einließen und dann keinen Ausweg mehr fanden, als es allen deutlich war, dieses Unternehmen nimmt die Dimensionen eines Kriegs, ja Menschheitsverbrechens an – das alles also unter den Augen der Öffentlichkeit, in einem freien Land, das war und ist das eigentliche Skandalon, über das seitdem ständig hätte nachgedacht werden müssen.

Es bedurfte wahrlich nicht der Bekenntnisse eines McNamara, so befriedigend das heute für viele damalige „Anti-Vietnam-Aktivisten“ auch sein mag, um zu wissen, daß dieser Krieg sowohl ein Irrtum als auch ein Verbrechen war (für ihn war es eigentlich nur ersteres). Warum hat es in der westlichen Welt, die ja gemeinsam diesen Krieg geführt hat (Westeuropa war nicht nur ideologisch dabei, sondern hat auch wesentlich mitfinanziert), keine Grundsatzdebatte darüber gegeben: „Wie konnte das geschehen?“ Es ist ja schließlich keine Kleinigkeit, wenn über eine halbe Million Menschen in einem irrtümlich geführten Krieg und kommentiert und begleitet von Wissenschaft und Publizistik freier Länder mit täglichem „body count“ zugrunde gerichtet werden und ein ganzes Land systematisch verwüstet wird.

Nicht die Spätbekenntnisse dessen, der damals wissentlich unsinnige Befehle erteilte, sind das Problem: Diese Herren sind nun einmal strukturell blind, pathologisch verdummt (bei hoher Intelligenz), und Menschen sind für sie vor allem statistische Größen; das Problem sind die intellektuellen und politischen Verdränger – und zu denen gehört ja schließlich auch ein Großteil derer, die heute noch selbstgerecht zur politischen Klasse dieses Landes gehören und die damals die Kriegsgegner beschimpft, diskriminiert und verfolgt haben. Ekkehart Krippendorff

Politikwissenschaftler am J.-F.-Kennedy-Institut in Berlin; zuletzt von ihm erschienen:

„Lincoln's Gettysburg Adress“ (1994)