Kaukasische Kämpfe

Seit zweihundert Jahren beherrschen Auseinandersetzungen die russisch-tschetschenischen Beziehungen  ■ Von Davrell Tien

Obwohl sie nur eine Million Menschen sind, hatte die Bevölkerung Tschetscheniens schon öfter eine Katalysatorenrolle innerhalb der russischen Geschichte. Solschenizyn erwähnt sie im „Archipel Gulag“ als diejenige Nation, die sich als einzige militant gegen die sowjetische Psychologie der Unterwerfung wehrte. „Kein Tschetschene hat sich je darum bemüht, den Behörden zu helfen oder sie wenigstens nicht zu verärgern. Ihre Haltung war immer von Stolz, wenn nicht sogar Feindseligkeit geprägt. Hinzu kam“, schreibt Solschenizyn, „daß merkwürdigerweise jeder sie fürchtete und keiner sie an ihrem Lebensstil zu hindern versuchte.“

Ein näherer Blick auf die Beziehung zwischen Rußland und Tschetschenien zeigt, daß sich beide Nationen schon seit über zweihundert Jahren über ihren Willen und ihre Fähigkeit zum Miteinander-Kämpfen definiert haben. Schon Puschkin, Lermontow und Tolstoi waren von der Rolle ihres Landes als Aggressor sowohl inspiriert als auch irritiert. Und alle drei würdigten den Widerstandsgeist der Tschetschenen in ihrem Werk. Für sein Frühwerk „Gefangener des Kaukasus“ – eine Verserzählung über einen russischen Offizier, der von dem Bergvolk gefangengehalten wird – ließ sich Alexander Puschkin von der Gestalt General Aleksei Ermolows inspirieren, ein zaristischer Befehlshaber, der den Völkermord als militärische Strategie erfand. Durch Massaker an den Bewohnern der Dörfer versuchte Ermolow potentielle Rebellen zu beeindrucken. Das Heldengedicht, das nach seinem Erscheinen beim Publikum in St. Petersburg gut ankam, etablierte den Kaukasus im Denken der Russen als Quelle literarischer Inspiration.

Scheinheiliger Missionierungsversuch

In der Realität war die Beziehung der beiden Völker weniger romantisch. Michail Lermontow, der selbst Soldat im Kaukasus war, schrieb ein Gedicht, in dem ein Tschetschene am Ufer des Terek, seinen Dolch schärfend, entlangschleicht, um ein russisches Kind zu töten. Seine Verse wurden zu einem beliebten russischen Schlaflied. In seinem Roman „Ein Held unserer Zeit“ werden Tschetschenen als ungewaschene, mordgierige Psychopathen geschildert. Lermontows Held, ein russischer Offizier, der seinen Zynismus mit kriminellen Übergriffen an der ansässigen Bevölkerung auslebt, wird nur von seinen Gewissensbissen geplagt. Zwar begriffen Tolstoi und Lermontow die brutale Scheinheiligkeit der offiziellen Begründungen ihres Landes, man müsse den „Eingeborenen“ europäische Zivilisation und Gerechtigkeitssinn beibringen, aber das Recht auf ein russisches Großreich stellten sie prinzipiell nicht in Frage.

Auch die Kaukasier hatten ihre Dichter. Noch fünfzig Jahre nach seiner Gefangennahme sangen kaukasische Barden vom tschetschenischen Rebellen Sheik Mansur, der „geboren war, um Moskaus Stolz in tiefsten Staub zu treten; er hat gekämpft und hat erobert die verfluchte Rasse da im Norden nah und fern ...“ Daß die literarischen Resultate ihrer Geschichte weniger bekannt und vielleicht auch weniger großartig sind, liegt zumindest teilweise an der Eliminierung von Schriftstellern und tschetschenischen Dichtern durch Gefängnis und Mord.

Der Dichter und Journalist Hassan Israilow, der die Ausplünderung Tschetscheniens durch kommunistische Funktionäre satirisch kommentiert hatte, gab die Literatur allerdings selbst auf und ging in die Politik. 1940 führte er einen bewaffneten Aufstand an, überzeugt davon, daß die Kampagne gegen so viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen gleichzeitig (Kulaken, Mullahs, Banditen, bourgeoise Nationalisten) nichts anderes bedeuten könne als die schrittweise Vernichtung der gesamten Nation. Israilow inspirierte eine ganze Welle erfolgreicher Aufstände gegen lokale Bolschewiken und führte zur Etablierung einer provisorischen tschetschenisch-inguschischen Regierung.

Die antikoloniale Tradition des Kaukasus

Die Völker des Kaukasus hatten seit Anfang des 19. Jahrhunderts, zur Zeit Ghazi Muhammads, eine ausgeprägt antikoloniale Tradition. „Ein Muslim kann niemandem untertan sein, noch darf er jemandem Tribut zahlen, nicht einmal an einen anderen Muslim“, predigte der Sufi. „Wer Muslim ist, muß ein freier Mann sein, und unter Muslimen soll Gleichheit herrschen.“ Ghazi Muhammad wurde schließlich in die Enge getrieben und 1831 ermordet. Sheik Shamil war sein militärischer und politischer Nachfolger. Er hielt die zaristische Armee jahrzehntelang erfolgreich auf und wurde in ganz Europa berühmt. Viele unabhängige Beobachter, unter ihnen Karl Marx, verfolgten den kaukasischen Freiheitskampf mit Sympathie. Das Portrait Shamils ist das einer heroischen Gestalt, die es verstand, verzweifelt um ihr Überleben kämpfende, primitive Stämme zu organisieren. Und der Islam war die einzige Fahne, unter der sich die auch sprachlich voneinander unterschiedenen Ethnien einigen ließen.

Zu einem unabhängigen Nordkaukasus ist es nicht gekommen: Rußland bot massenhaft Truppen und Geld auf, um jeglichen eigenstaatlichen Versuch zu unterdrücken. Die Zahl der russischen Soldaten wurde ständig erhöht, von 4.000 Mann in Tiflis im Jahre 1800 auf über 200.000 in den 1840ern. Damals wie heute machte der Unterschied der Ressourcen einen militärischen Sieg der Kaukasier nahezu unmöglich. Es gab auch islamische Denker, die gegenüber der russischen Herrschaft den Weg des gewaltlosen Widerstands gehen wollten. Um 1860 sympathisierten nicht wenige Tschetschenen, die vom Kämpfen genug hatten, mit Kunta Kischiew, einem Ziegenhirten, der sich zu religiösem Philosophieren hingezogen fühlte und mystische Askese, Loslösung von weltlichen Dingen und „Nichtwiderstand gegenüber dem Übel“ predigte. Die russischen Behörden ließen ihn verhaften und sperrten ihn in die Abteilung für Geisteskranke eines russischen Gefängniskrankenhauses, wo er drei Jahre später starb.

Bedenkt man die enormen Kosten der Kasernierung von Soldaten im Nordkaukasus und den immer wieder nachwachsenden Widerstand solcher Völker wie der Tschetschenen, muß man sich nach der Motivation russischer Regierungen fragen. Was hält sie dort? Warum geben sie nicht auf? Das literarische Erbe ist daran nicht ganz unschuldig. Offenbar kann Rußland dieses durch Puschkins, Lermontows und Tolstois Zeilen unsterblich russisch gemachte Land ebensowenig aufgeben wie Amerika den zum Mythos gewordenen wilden Westen.

Der Kaukasus symbolisierte auch für die vor der Leibeigenschaft zu den Kosaken fliehenden Bauern Rußlands die Freiheit. Denn jahrhundertelang unterstützte Moskau die Kosaken in ihrem Drang, sich die fruchtbaren Täler oberhalb der kaukasischen Berge anzueignen, um sie dann als Puffer für ihre schwierige Südgrenze zu nutzen. Leutnant Gernal A. Weliaminow, ein Zeitgenosse Ermolows, siedelte beispielsweise Kosaken bei den Kaukasiern an, um deren Lebensmittelproduktion einzuschränken.

Wirtschaftsinteressen und soziale Kontrolle

Auch unter den Sowjets war die Kontrolle des Nahrungsmittelanbaus wieder ein beliebtes Instrument sozialer Kontrolle. Der nördliche Kaukasus stand als erster Bezirk der Sowjetunion auf der Liste für eine vollständige Kollektivierung der ländlichen Ökonomie und die Liquidierung der Kulaken. Als der Plan in Tschetschenien 1929 bekannt wurde, explodierte das ganze Land, und das sowjetische System wurde prompt gestürzt. Moskau schien zunächst einzulenken und erklärte das Ganze zu einem Irrtum – während man zugleich 150 Geheimdienstler der GPU schickte, die auf die Schnelle alle Führer der Revolte kassieren sollten. Aber die GPU- Leute wurden ermordet, und die Revolte ging erst richtig los. Nach einer halbherzig geführten Verteidigung zog sich die Rote Armee zurück. Große Mengen Industriegüter flossen plötzlich ins Land, und eine Amnestie wurde erlassen. 1931 kam die GPU wieder und deportierte 35.000 „kulakische Konterrevolutionäre und religiös-nationalistische Ideologen“; kaum einer kehrte je zurück.

Wenn jetzt, zum Zeitpunkt der überlebensnotwendigen Frühjahrsbestellung, wieder Krieg herrscht, scheint unvermeidbar, daß sich die Geschichte wiederholt. Das autarke Tschetschenien wird mit der russischen Invasion an den Rand einer Hungerkatastrophe getrieben. Auch sein industrieller Reichtum ist wieder zum Zankapfel geworden. Schon zur Jahrhundertwende wurde Grosny zu einem Zentrum der Öl verarbeitenden Industrie und zog dadurch viele russische Siedler an. Während des russischen Bürgerkriegs

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verbanden sich die Tschetschenen aus strategischen Gründen mit den Bolschewiken gegen die Weißen Armeen. Als sich die Herrschaft der Bolschewiken jedoch konsolidierte, rekrutierte die Kommunistische Partei russische Arbeiter für die Ölverarbeitung. Und bis 1937 arbeiteten in Grosnys Fabriken noch immer nur insgesamt 5.535 tschetschenische und inguschische Arbeiter.

Auch heute wieder ist diese Industrie das Zentrum eines heftigen Kampfes. Als Dudajew 1992 Rußland den Ölhahn zudrehte, mußte Moskau sich plötzlich die Ölprofite mit der Republik teilen – ein demütigendes und durchaus bedrohliches Exempel. Zu Beginn des Krieges und nach der Bombardierung tschetschenischer Raffinerien erklärte einer der wichtigsten Staatssekretäre Rußlands für Wirtschaftsangelegenheiten, daß der Krieg ökonomisch Sinn mache, weil man zukünftig wieder mit Profiten aus der Ölproduktion rechnen könne.

Moskaus damals wie heute oft wiederholtes Argument für ein militärisches Eingreifen – daß man „Banditen“ das Handwerk legen müsse – hat wenig mit dem Kampf gegen Kriminalität zu tun, dafür aber sehr viel mit ökonomischer Herrschaft. Selbst wenn man die tschetschenisch-russische Geschichte in ihrer ganzen Brutalität betrachtet, ist kalkulierter Kolonialismus nun wiederum auch nichts Neues, auch in Rußland nicht. Als die Bolschewiken an die Macht kamen, wurden Shamil und die anderen nordkaukasischen Freiheitskämpfer gegen die Zarenherrschaft von der neuen Sowjetregierung zunächst durchaus als progressive historische Gestalten gesehen. Zumindest theoretisch unterstützten die Bolschewiken die Forderungen unterdrückter Minderheiten. Praktisch jedoch benahm sich die Rote Armee im nördlichen Kaukasus derart arrogant, daß 1920 ein ganzes Jahr verging, bis der nördliche Kaukasus in den sowjetischen Staat eingebracht war. Dieser Krieg wurde allerdings geheimgehalten.

Immer wieder wurde auch versucht, die Tschetschenen ihrer Geschichte zu berauben. Das erste Opfer war Shamil, dessen Status als antikolonialer Held schon in den dreißiger Jahren nicht mehr sicher war. 1937 verhaftete der NKWD fast 14.000 Funktionäre und Intellektuelle in der tschetschenisch-inguschischen Republik. Einheimische Kommunisten der Führungsschicht wurden gegen fremde ausgetauscht. Nach dem Krieg wurde die Geschichte des Nordkaukasus neu geschrieben, und aus Shamil und seinen Rebellen wurden Reaktionäre. Bei der Massendeportation von Tschetschenen und Inguschen 1944 nach Sibirien und Zentralasien – einschließlich derer, die gar nicht mehr auf dem Territorium der Republik selbst lebten – kamen 30 bis 50 Prozent des Volkes durch Mißhandlungen auf dem Transport und schwere Haftbedingungen ums Leben.

Nach Stalins Tod erzwangen sich Tschetschenen und Inguschen 1957, nach 13 Jahren Abwesenheit, die Rückkehr in ihr Land. Als Begründungen für die Deportationen wurden ihnen immer nur endlose Lügen aufgetischt. Nicht nur der Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen war reichlich vorgeschoben, auch Dokumente wurden gefälscht. So hat Stalin das gefährdete Volk gerade noch rechtzeitig vor dem sicheren Tod durch die deutsche Wehrmacht retten können ...

Mit Glasnost drängte eine neue Generation kaukasischer Intellektueller auf Shamils Rehabilitation und die Feststellung der Wahrheit über die Vergangenheit. Der Dichter Hussein Satujew erklärte: „Wenn man nur noch Lügen über ein Volk erzählt, stirbt es von neuem. Unser Volk hat die Grausamkeiten des Stalinismus erfahren. Wir weinen bis heute an unseren Gräbern. Warum müssen wir nun ein zweites Mal sterben? Wir brauchen die Wahrheit.“ 1988 lenkte Moskau ein. Aber der Versuch, kommunistische Helden Tschetscheniens zu rehabilitieren, wurde ein Mißerfolg. Man wollte die Sufi-Führer wiederhaben. Erst 1990 wurde Ermolows Denkmal aus Grosny entfernt.

Wenn russische Panzer durch Tschetschenien fahren und unterschiedslos auf alles schießen, soll sich keiner wundern, daß die Menschen den Intentionen Moskaus zutiefst mißtrauen. Jeder kleine Junge in Tschetschenien kennt Shamil, jedes Dorfmädchen bewundert Dudajew, und jede Großmutter erzählt Geschichten über die Männer ohne Glauben und Rücksicht, die ab und zu kommen, um zu stehlen, zu töten und zu lügen. Sie sind, sagen die Alten, die wahren Fanatiker. Besser ist es, sie rechtzeitig zu bekämpfen.

Davrell Tien ist freier Journalist und lebt in Schweden. Zur literarischen Bearbeitung des traditionellen tschetschenisch-russischen Mißtrauens siehe auch den 1987 publizierten Roman „Schlief ein goldnes Wölkchen“ von Anatoly Pristawkin (Fischer Taschenbuch).