Castor allein zu Haus

■ Heute vor neun Jahren: Atomkraftwerk fliegt in die Luft / Gestern: Der Castor erreicht trotz Protesten Gorleben / Ein Frachter entlädt Atommüll in Japan / Energiekonsensgespräche in Bonn ergebnislos

Berlin/Tokio (taz) – Vor Gorleben blieb der Castor immer wieder stecken. Immer neue Blockaden, Jugendliche, Bauern mit Treckern, versperrten den Weg des Brennelementetransports. Zunehmend aggressiver räumten entnervte Polizisten die Demonstranten mit Schlagstöcken ab. Stunden vergingen, bis sich der Tieflader mit der radioaktiven Fracht auch nur ein paar Kilometer weiterbewegen konnte. Sein Ziel erreichte er erst mit mehrstündiger Verspätung.

Über 6.000 Beamte der Polizei und des Bundesgrenzschutzes waren seit Montag im Einsatz. Ausgerechnet zum neunten Jahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl hatten sie dafür zu sorgen, daß das Atomlager von Gorleben gegen den erbitterten Widerstand einer ganzen Region endlich in Betrieb genommen wird. Seit zehn Jahren stand die riesige Halle leer, nun steht der erste Castor drin. Bundesumweltministerin Angela Merkel gibt heute eine Regierungserklärung vor dem Bundestag ab. Allein dieser größte Polizeieinsatz seit der Wiedervereinigung Deutschlands wird etwa 30 Millionen Mark kosten.

Der politische Schaden der Provokation ist weit größer. Neun Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl sterben in Rußland, der Ukraine und Weißrußland immer noch Menschen an den Folgen. Boris Jelzin rief gestern zur Hilfe auf. Die staatlichen Behörden hätten nicht genug für die Strahlenopfer getan, sagte der russische Präsident. Sie sollten „aktiver“ mit den Organisationen der Opfer „zusammenarbeiten“.

Am 26. April 1986 geriet der Reaktor Nummer vier im damals noch sowjetischen Kraftwerkskomplex von Tschernobyl außer Kontrolle. Eine Explosion hatte sich ereignet, eine radioaktive Wolke zog über die Ukraine, Weißrußland, Schweden bis nach Mitteleuropa.

Nichts ist seither, wie es war. Alle Staaten der Europäischen Union, auch diejenigen, die unverändert auf die Atomenergie setzen, sind heute bereit, Milliarden zu bezahlen, um die Ruine von Tschernobyl wenigstens notdürftig abzudichten. Sie fordern, das ganze Kraftwerk stillzulegen. Kühl nutzt die Regierung der heutigen Ukraine die Angst des Westens. Der heutige Kraftwerksleiter läßt verlauten, er habe „kein Problem mit Tschernobyl“.

Wie kann ein für gewöhnlich einflußloser Provinzgouverneur des mächtigen Zentralstaats Japan die ganze Welt zum Hinschauen zwingen? Morio Kimura, Gouverneur der Provinz Aomori, gab gestern seine Antwort. Für fast zwölf Stunden erklärte er sich zum Atomkraftgegner. Dabei tat Kimura nur, was ihm die Bürgerbewegungen seiner Region seit Jahren rieten. Er verweigerte am Tag, als das Atomfrachtschiff „Pacific Pintail“ zur Entladung von hochradioaktivem Müll aus Frankreich in einem Hafen von Aomori einlaufen wollte, das Anlegerecht. Eigentlich zählt der Gouverneur zu den entschiedenen Befürwortern der Atomindustrie. Aber diesmal bekam er Angst. Er wollte eine Versicherung aus Tokio, daß seine Region nicht zum Endlager für Atommüll erklärt wird.

Der Entschluß Kimuras hatte sofort Folgen: Vor der Küste Aomoris lag seit gestern morgen der Frachter fest, von dem Atomkraftgegner in Japan behaupteten, er befördere die gefährlichste Ladung, die je ein Schiff an Bord nahm.

Satellitenbilder der ziellos dümpelnden „Pacific Pintail“ gingen um alle Welt und riefen Empörung hervor – besonders in Portugal, Chile, Hawaii und Südkorea, wo die Regierungen schon während der geheimgehaltenen Überfahrt der Atomschiffs protestiert hatten.

Japan hält unbeirrt am sogenannten Plutoniumkreislauf fest, der von westlichen Industriestaaten inzwischen verworfen wird. Tatsächlich ist die Rückfuhr von hochradioaktivem japanischen Atommüll aus den Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und England nur ein kleiner Schritt in dem großangelegten Plan der Tokioter Nukleokratie, einen eigenen atomaren Brennstoffkreislauf fürs 21. Jahrhundert aufzubauen. Verbissen halten die Tokioter Behörden deshalb an der Wiederaufarbeitung fest, die erst ab 1998 nach Japan verlagert werden kann. Aus diesem Grund aber müssen bis zum Jahr 2010 noch 7.000 Tonnen Atommüll über die Weltmeere zurück nach Japan befördert werden. Davon brachte die „Pacific Pintail“ gestern nur 14 Tonnen mit.

Allerdings wird das Schiff heute im Hafen von Aomori anlegen und – nach den von Gouverneur Kimura verlangten zusätzlichen Sicherheitsinspektionen – seine Fracht löschen können. Darauf einigten sich die Regierung in Tokio und Aomori noch gestern abend, nachdem das zuständige Ministerium in Tokio zusicherte, daß Aomori nicht zum Atommüllendlager bestimmt werden könne. Dieser Prestigeerfolg ihres Gouverneurs mag den Bewohnern der Region dennoch wenig nützen: Denn über das Endlager soll in Japan frühestens im Jahr 2000 entschieden werden. Falls man sich eines Tages für Aomori ausspricht, so ist die gestrige Vereinbarung wohl hinfällig.

Fast gar nichts vereinbart haben am Montag abend in Bonn Gerhard Schröder, Angela Merkel und Günter Rexrodt. Fünf Stunden sprachen sie über die Atomenergie in Deutschland. Es blieb bei den bekannten Standpunkten. Rexrodt und Merkel bestehen darauf, eine sogenannte Option für die Zukunft der Atomenergie festzuschreiben. Neue Atomkraftwerke seien in jedem Fall zu genehmigen, formulierte der FDP-Wirtschaftsminister die Maximalforderung, und zwar noch bevor die Atomindustrie selbst sagt, wann und wo sie tatsächlich gebaut werden sollen. SPD- Verhandlungsführer Gerhard Schröder versuchte, mit der Einrichtung von Expertenarbeitsgruppen zur Frage alternativer Energien die unmittelbare Konfrontation zu mildern. Aber nicht einmal dazu war die Regierungsseite bereit. Vereinbart wurde lediglich ein neuer Termin am 21. Juni. Was sich bis dahin ändern könnte, weiß niemand. Damit ist der Versuch gescheitert, auch in Deutschland über die Nutzung der Atomenergie einen Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen zu finden.

An diesem Montag abend trafen sich nur noch Parteienvertreter zum Gespräch, Umweltverbände waren gar nicht erst eingeladen, die Anti-Atomkraftinitiativen ohnehin an Bahngleisen und im Wendland unterwegs, um gegen den ersten Transport abgebrannter Brennstäbe nach Gorleben zu demonstrieren. Mit der Fahrt des Castor hatten die Falken der Atomindustrie schon vor der Bonner Runde ihre Zeichen gesetzt – gegen den kaum noch verhohlenen, aber völlig wirkungslosen Protest des Chefs der Veba-Tochter PreussenElektra.

Gescheitert ist auch er, ebenso wie Gerhard Schröder. Beide blieben am Ende allein in ihrem Lager, die viel größere PreussenElektra mit ihren sechs Atomkraftwerken unterlag zwei baden-württembergischen Betreibern von zwei Atomkraftwerken. Und auch SPD-Chef Scharping ließ Gerhard Schröder, seinen schärfsten Rivalen, ohne ein Wort der Unterstützung in die Konsensrunde ziehen. Scharping möchte die große Koalition, die er plant, nicht durch die Streitfrage der Atomenergie belasten.

Eine realistische Zukunft hat die Atomenergie in Deutschland damit nicht zurückgewonnen. Die älteren Atomkraftwerke brechen allmählich auseinander – die bisher tatsächlich eher unwahrscheinliche Gefahr einer Tschernobyl-Katastrophe wird damit Jahr für Jahr wahrscheinlicher. Und neue Reaktoren können nicht gebaut werden, ohne die Gefahr schwerster innerer Unruhen heraufzubeschwören. Der Widerstand gegen den Castor hat auch der Atomindustrie einen Vorgeschmack darauf gegeben, was ihr in diesem Fall bevorsteht.

Der zivile Widerstand gegen die Atomenergie ist wieder aufgelebt, kläglich versagt haben die großen Parteien. Die gescheiterten Konsensgespräche werfen die Debatte um Jahre zurück, weder Sozialdemokraten noch gar die Regierungskoalition haben sich als fähig erwiesen, den Konflikt zu lösen, der die Gesellschaft spätestens seit dem 24. April 1986 spaltet. Er wird bald auch das neue Ostdeutschland erreichen: In Greifswald und Morsleben sind noch größere Atomlager geplant als in Gorleben. N. Hablützel/G. Blume

Tagesthema Seiten 2 und 3